„Ich kann Oliver Kahn verstehen“

Günter Kolodziej

„Klaus Wowereit ist ein ganz anderer Typ als Zinedine Zidane. Einer, der antreibt, der den Ball fordert, der auch mal laut wird und, wenn nötig, in die Zweikämpfe geht. Also eher so wie Sammer früher“„Thilo Sarrazin ist viel subtiler, als man gemeinhin annimmt. Er weiß, was er will, er hat sich auf Gegner und Platzverhältnisse eingestellt. Er ist ein Mann, der aus jeder Position den tödlichen Pass spielen kann“

Er ist PDS-Mann, er kommt aus dem Westen, er verkauft neben Michael Donnermeyer die Politik des rot-roten Senats. Und er ist leidenschaftlicher Fußballfan. Günter Kolodziej, der stellvertretende Senatssprecher, erklärt, wie es um die rot-roten Mannschaftsstärken steht, warum er als Linker heute mit Deutschland mitfiebert, Frankreich die Daumen drückt und trotzdem glaubt, dass Italien Europameister wird. Angefangen hat die Begeisterung des 51-Jährigen für den Fußball mit einem weißen Lederball, den ihm sein Patenonkel geschenkt hat

INTERVIEW UWE RADA
UND RICHARD ROTHER

taz: Herr Kolodziej, sind Sie voller Vorfreude?

Günter Kolodziej: Ja, kann man sagen. Ich war Mitte Mai in Lissabon, privat, und da sah man schon, wie sich die Stadt fein gemacht hat. Ich bin auch mal kurz am neuen Stadion vorbeigefahren. Sieht gut aus.

Alle zwei Jahre hat das Leben wieder einen Sinn?

Ich gucke ja ein bisschen über den Tellerrand hinaus. Dieses Jahr haben wir noch die Tour de France und Olympia. Aber Fußball-Europameisterschaft oder Weltmeisterschaft, das ist schon das Größte.

Als PDS-Mann schlägt Ihr Herz links, aber für wen schlägt das Herz in Portugal?

Das Herz schlägt für Frankreich, und mein Tipp heißt Italien.

Deutschland hat keine Chance? Sind sie ein vaterlandsloser Gesell?

Nein! Ich leugne gar nicht, dass ich mitfiebere, wenn die eigene Mannschaft spielt. Das ist auch ganz in Ordnung. Es ist nur so: Wenn ich sie dann sehe, kann ich nicht anders als anzuerkennen, dass es große Kunst ist …

die der Gegner spielt.

Ja. Es ist einfach Fußballkunst. Wenn ich mir die italienische Mannschaft angucke, die auf allen Positionen gut besetzt ist, eine wunderbare Abwehr hat, wenn Buffon zu alter Stärke zurückfindet, die vorne mit Totti einen Mann hat, der diese Saison einen fantastischen Lauf hat, dann ist das keine Frage des Herzens, sondern des Verstandes, dass die deutschen Chancen nicht so groß sind.

Wird Deutschland überhaupt das Viertelfinale erreichen?

Auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen: Deutschland zwingt in einem kampfbetonten Spiel Lettland mit zwei zu eins in die Knie und tritt anschließend als Tabellendritter der Gruppe D vorzeitig die Heimreise an.

Mit drei Punkten?

Tja …

Das heißt, im morgigen Spiel gegen Holland ist nichts zu machen.

Zwei zu null für Holland.

Herr Kolodziej, wie bereiten Sie sich persönlich auf die EM vor?

Ich habe von der PDS einen kleinen Spielplan im Taschenformat bekommen. Dann habe ich mir noch das Kicker-Sonderheft gekauft, weil das einfach zu schön ist, die Mannschaftsaufstellungen zu haben, die Trainerstimmen. Dazu habe ich auch noch mal in einem meiner Lieblingsbücher bei Eduardo Galeano rumgeschmökert. Der hat kurze Essays über den Fußball geschrieben, Erinnerungsstücke, Analysen, schön zu lesen.

Gibt es auch Spiele, wo Sie sagen, da muss ich in meinem Terminkalender sehen, was sich streichen lässt? Schließlich ist der Fußball wichtiger als die Politik.

Das ist in diesem Falle günstig, weil ab dem 20. Juni die Parlamentsferien anfangen. Dann liegen die Spiele mit 18.00 Uhr und 20.45 Uhr auch besser als bei der WM in Südkorea und Japan.

Haben Sie vor zwei Jahren mal geschwänzt? Hand aufs Herz!

Ich bin einmal unter der Vorspiegelung eines wichtigen Termins vorzeitig aus der Senatssitzung rausgegangen, um den Zwischenstand eines Spiels einzufangen. Ansonsten haben wir damals auch, das war einmalig, Senatspressekonferenzen vorverlegt, um anschließend selber, aber auch mit den Kollegen zusammen ein Halbfinale oder ein anderes wichtiges Spiel zu sehen. Beim Endspiel hatten wir damals die Haushaltsklausur, die ist dann für die Dauer des Endspiels unterbrochen worden. Da ist der ganze Senat ins Sony-Center gefahren, um sich das Spiel anzugucken. Anschließend haben wir weitergespart.

Gab es da einen Kollegen, der gesagt hat: Ihr habt sie wohl nicht alle?

Keiner hat sich negativ geäußert. Der Finanzsenator allerdings ist spazieren gegangen. Das ist aber auch o. k.

Zwischen Anschauen und Mitfiebern ist ein Unterschied. Wer teilt Ihre Leidenschaft bei Rot-Rot?

Der Sportsenator auf jeden Fall. Der Kollege Donnermeyer. Bei der PDS ist das Faible für Fußball eher diskret.

Wenn wir einmal das Bild des rot-roten Senats als Fußballmannschaft bemühen wollen, und wenn man vielleicht Ihre Aufgabe und die von Herrn Donnermeyer als Trainerposition begreift …

Oh! Ich fühle mich geschmeichelt.

Wo würden Sie sagen, liegen die Schwächen der Mannschaft, wo die Stärken?

Die Stärke der Mannschaft liegt darin, dass sie sehr ausgeglichen besetzt ist. Und dass sie tatsächlich als Mannschaft auftritt. Wenn man das mit früheren Senaten vergleicht, war das ja eher ein institutionalisiertes Gegeneinander. Die Geschlossenheit erleichtert vieles.

Frankreich, die Mannschaft, für die Ihr Herz schlägt, lebt vom Individualismus eines Zinedine Zidane.

Das ist richtig, aber die werden ja auch nicht Europameister.

Ist Wowereit der Zidane des Senats?

Der Regierende ist ein ganz anderer Typ. Einer, der antreibt, den Ball fordert, auch mal laut wird und, wenn nötig, in die Zweikämpfe geht. Also eher so wie Sammer früher. Jemand, der ein persönliches Risiko eingeht, wenn es der Sache nützt. Er hat sich zum Beispiel bei den Tarifverhandlungen sehr weit aus dem Fenster rausgelehnt.

Und Sarrazin ist dann der Katsche Schwarzenbeck.

Ich finde, Sarrazin ist wesentlich subtiler, als man gemeinhin unterstellt. Er hat einen feinen Humor. Er weiß, was er will, aber er hat ja auch seine Performance im Verlauf der letzten Jahre etwas verändert. Er hat sich auf Gegner und Platzverhältnisse eingestellt. Wenn ich ihn vergleichen müsste – au, schwierig.

Der Mann vor der Abwehr vielleicht.

Ein Mann, der aus jeder Position den tödlichen Pass spielen kann.

Was hat die Auswechslung von Peter Strieder gebracht?

Ruhe in die Mannschaft. Ich glaube, da es gelungen ist, eine gute Nachfolgerin zu finden, werden wir an verschiedenen Stellen künftig vielleicht etwas weniger spektakulär, aber durchaus erfolgreich spielen.

Das Publikum möchte aber erfrischenden Offensivfußball.

Das Publikum möchte beides sehen: Offensivfußball, aber auch Erfolg.

Herr Kolodziej, wie begann Ihre persönliche Fußballerbiografie?

Das war, ich kann mich noch gut erinnern, am 26. April 1961. Es war das Halbfinale im Europapokal HSV gegen FC Barcelona. Der HSV hatte das Hinspiel mit 1:0 verloren und führte mit 2:0 bis zur 90. Minute, in der plötzlich das 2:1 fiel. Das anschließende Entscheidungsspiel verloren die Hamburger. Das alles hat mich, ich war sieben Jahre alt, total berührt. Von meinem Patenonkel hatte ich in dem Jahr zur Kommunion einen weißen Lederfußball geschenkt bekommen. Mit dem wollte ich zuerst gar nicht spielen, damit der keine Kratzer kriegt. Gespielt habe ich dann aber doch, vor allem auf der Straße oder mal kurz in der Schulmannschaft von Bergneustadt, einer Kleinstadt in der Nähe von Gummersbach in Nordrhein-Westfalen.

Es heißt, Sie spielten gern im Tor – trotz Ihres niedrigen Wuchses.

Nicht immer konnte ich den durch meine enorme Sprungkraft wettmachen. Ich erinnere mich noch gut an ein nicht gerade schönes Erlebnis, da war ich 14. Der Torwart unserer Schulmannschaft war verletzungsbedingt ausgefallen. Der Trainer, der mich als Handball-Torwart kannte, bat mich einzuspringen. Ich sagte leichtsinnigerweise zu.

Wir ahnen Schlimmes.

Wir spielten gegen das Gymnasium Marienheide, und alle Schüler hatten schulfrei, um zuzugucken. Die gute Nachricht: Wir haben 12:2 gewonnen. Die weniger gute Nachricht: Ich habe nur zwei Schüsse aufs Tor bekommen. Einer war besonders deprimierend: ein langer Ball von der Mittellinie, den ich lässig auffangen wollte. Der Ball tropfte kurz vor mir auf und sprang über mich ins Tor. Alles bog sich vor Lachen, und ich wollte im Boden versinken. Immerhin, so habe ich wenigstens eine sinnliche Erfahrung, wie sich Oliver Kahn nach dem 1:1 gegen Madrid gefühlt haben mag.

Wie begann Ihre berufliche Karriere?

Erfolgreicher. Von Beruf bin ich Lehrer. Als ich das zweite Staatsexamen in Hamburg bestanden hatte, gab es einen Einstellungsstopp für Lehrer in Hamburg. Gleichzeitig zogen 1982 die Grünen in den Bundestag und man fragte mich, ob ich das Hamburger Team dort verstärken möchte. Das habe ich gerne angenommen. Es war ein wenig wie Wilder Westen in der Politik, aber spannend und lehrreich.

Damals war Fußball eine hochideologische Angelegenheit. Als Fußballfan hatte man diverse Gender-Diskussionen zu führen, gleichzeitig durfte man nicht für die Bundesrepublik sein. Wie haben Sie sich in diesen Fahrwassern bewegt?

Ich fürchte, nicht ganz so souverän, wie es angebracht gewesen wäre. Ich habe wohl auch der unseligen Manier der Linken angehangen, Spaß auf keinen Fall nur so haben zu dürfen. Dem Vergnügen am Fußball musste eine etwas höhere theoretische Weihe eingehaucht werden: etwa Fußball als Ausdruck der Demokratisierung unter Willy Brandt.

Wie sehen Sie das heute?

Inzwischen denk ich, das ist Kappes. Fußball ist ein Spiel, das seinen Zweck in sich selbst hat. Es ist völlig legitim, sich das anzugucken und seinen Spaß daran zu haben. Ohne viel hineinzugeheimnissen oder über Gebühr zu politisieren. Dieses Gegen-Deutschland-sein-zu-Müssen ist ja auch eine Form des Nationalismus, nur negativer Nationalismus. Wie bei einem Atheisten, der ohne Gott nicht auskommt, weil er sonst nichts hätte, gegen das er polemisieren könnte.

Sie sagen, Zidane ist ein Ausnahmespieler. Sehen Sie einen, der einmal in seine Fußstapfen treten könnte?

In dieser Rolle nicht. Es gab immer Spieler, wie etwa Maradona, die individuell aus der Mannschaft herausragten, aber nicht immer effektiv waren. Bei Zidane ist die Synthese zwischen Effektivität und ästhetischem Genuss so faszinierend. Ich fürchte aber, dass nach dem Motto „Der Star ist die Mannschaft“ junge Spieler sehr spezialisiert ausgebildet werden. Damit wird auch der Spielraum für Künstler enger.

Hätte der Berliner Sebastian Deisler ein solcher werden können?

Man darf Leute, die drei, vier gute Spiele machen und Talent haben, nicht gleich so hochschreiben, dass sie die in sie gesteckten Erwartungen nicht erfüllen können.

Kann die Erkrankung Deislers nicht ein Anlass sein, mal im Fußball-Business innezuhalten?

Ich glaube, bei Deisler gab es diesen Moment des Nachdenkens und der Zurückhaltung, auch beim Boulevard. Wenn man bedenkt, dass Fußball sehr machomäßig orientiert ist. Depressionen und Fußball können hier kaum zusammen gedacht werden, wie übrigens auch Fußball und Homosexualität noch nicht. Beim Fall Deisler gab es allerdings erstaunlich viele nachdenkliche Kommentare und erfreulich wenig Häme.

In Berlin gibt es einen bekennenden schwulen Bürgermeister. Wann wird sich endlich der erste Fußballer outen?

Eher wird Deutschland Europameister.