Leidenstechnisch die volle Kante

Wahrheit-Sonderkorrespondenten vor Ort: Melancholischer Fado bei torlosem Figo

Die Bar „O Carvoeiro“ in Lissabons Altstadtviertel Alfama, kurz nach Anpfiff der zweiten Halbzeit. Hier ist das Aufnahme-Team von „everyone’s eurosport“ richtig. Fünfzig Gesichter starren entgeistert auf den Flachbildschirm unter der Decke. Gerade ist Ronaldo die linke Seite heruntergekurbelt, dem griechischen Stürmer hinterher, der ungehindert auf Keeper Ricardo zuläuft. Ronaldo, der Unglückswurm, erwischt ihn an den Hacken. Collina pfeift. Elfmeter. 0:2.

Es geht alles schief, es läuft alles verkehrt. Hunderte von rotgrünen Fähnchen, Dekoration für den Autokorso nach dem fest projektierten Sieg der portugiesischen Selecçao, die ein geschäftstüchtiger junger Mann Stunden vor dem Eröffnungsspiel in den Kofferraum seines zerbeulten Peugeot gepackt hat, finden keine Abnehmer. Genauso wie die fünfhundert Fass Sardinen, anderthalb Tonnen Blut- und Räucherwurst, 25 Zentner gesottene Schnecken, Berge von Pommes und Grillfleischfetzen, vom Bier und Wein gar nicht zu reden, die der Wirt des „O Carvoeiro“ in Erwartung eines rauschenden Fußballfestes in seinem Keller gelagert hat.

Ja, hier ist Eurosport richtig. Hier finden sich garantiert die atmosphärisch knalligen Bilder, die authentischen Gefühlsausbrüche. Glutäugige Schönheiten, denen die Tränen sturzbachartig über das bronzene Antlitz rollen. Männer, die sich das Trikot vom Leib reißen, Köpfe, die vor Verzweiflung auf den Tresen schlagen, und das Geheul schwarz gekleideter Greisinnen, das von der Oberstadt hügelabwärts durch die schmalen Gassen bis an die Ufer des Tejo und über die Wasser zum Atlantik weit nach Westen, mindestens bis nach Madeira schallt. Portugal muss mal wieder Trauer tragen. Aspekte eines Gemütszustands, der in jedem Reisehandbuch beschrieben wird: Saudade, jene „gewisse Schicksalsergebenheit“, jene „nicht eindeutig zu definierende Mischung aus Einsamkeit, Wehmut und Sehnsucht nach vergangenen Zeiten“.

Von wegen. Zum Beispiel Luis, einer der Gastgeber der Wahrheit-Sonderkorrespondenten, seinerzeit ein hoffnungsvolles Talent bei den Wasserballern von Benfica. Statt sich anschließend leidenstechnisch vollends die Kante zu geben und unter trübsinnigem Fado-Gesang mit anzusehen, wie Gruppengegner und Erzfeind Spanien drei Punkte gegen Russland einfährt, ist er wie alle anderen Lissabonner völlig aus dem Häuschen. Heute ist der Festtag des heiligen Antonio, des Schutzpatron der Stadt und der Kinder, ein Tag, der nachts um elf Uhr in die prächtigen Marchas Populares mündet und jeden Kölner Jeck respektvoll und voller Ehrfurcht die Narrenkappe ziehen ließe.

Jeder Stadtteil und jeder kleine Vorort schickt bunt kostümierte Abordnungen flott orchestriert durch die girlandengeschmückten Straßen. Die Oberstadt verkleidet sich als Straßenbahn, andere tragen Möwen auf den Dauerwellen, die Nächsten schleppen silbrig glitzernde Papp-Sardinen in Finnwal-Format mit sich.

Fisch en gros ist den Sonderkorrespondenten der Wahrheit schon am Vormittag begegnet. Auf Empfehlung ihrer Gastgeber besichtigen sie das Ozeanium. Ein auch völkerkundlich lohnender Ausflug. Zeigt es doch, dass der Portugiese immer einen Dreh findet, die zwei Säulen seiner Existenz, das Maritime und den Fußball, miteinander zu verbinden. Die männliche Hälfte des putzigen Seeotterpärchens hört auf den Namen Eusebio. Aber auf dem Weg nach Oriente, wo das Ozeanium auf dem ehemaligen Expo-Gelände steht, zeigt sich auch, dass hier im Vorfeld so bedeutender sportlicher Ereignisse ein bisschen viel gefeiert wird.

Schon als die Wahrheit zwei Tage vorher aus dem Flugzeug stieg, waren die Portugiesen mit den Vorbereitungen für ihren Nationalfeiertag beschäftigt, der sinn- und sympathischerweise einem Dichter, Luís de Camões, gewidmet ist. Auf sein Wohl wird manche Flasche geköpft und der folgende Brückentag genutzt, um die Reste auszutrinken. So kann man sich natürlich auf eine EM einstimmen, aber gewisse konditionelle Defizite sind dann nicht auszuschließen.

Das lässt den Verdacht aufkeimen, dass zwei der besten portugiesischen Akteure, Deco und Gomes, erst in der zweiten Halbzeit ausgenüchtert sind und dem überragenden Figo viel zu spät von Trainer Scolari an die Seite gestellt werden. Das wäre eine unentschuldbare Nachlässigkeit.

Es ist, als ob Titan Kahn auch für die Portugiesen gesprochen hat, als er den versammelten Pressevertretern verriet: „Druck? Ich spüre überhaupt keinen Druck mehr vor lauter Druck.“ Na denn Prost, Tante Käthe.Aus Lissabon:
DIETRICH ZUR NEDDEN
MICHAEL QUASTHOFF