Gegen jede Chance

Es gab eine Zeit, da gab es vor Phil Collins kein Entkommen. Auf seiner angeblichen Abschiedstournee suchte der Brite nun ein (womöglich) letztes Mal Berlin heim

Was dem einen zartes Gebäck zum Nachmittagstee war, muss dem anderen eine Chrom-Kassette sein: Fabrication en Allemagne aus dem Jahre 1985. Der Titel in merkwürdig nach hinten geneigter Schreibschrift, „No Jacket Required“. Man legt sie ins Tapedeck, und tatsächlich, sie funktioniert noch, und tatsächlich, es ist alles wieder da: Die schmierigen Puffnummern, die ein bisschen zu schmissigen Bläser und die zwei, drei – nun ja – grandiosen Balladen: „’Cause I don’t remember / Take take me home“. Erster Engtanz und frühe Vereinsamung, eine Provinzpubertät mit vorzeitig verinnerlichten Ü-30-Tugenden, das Ganze pathetisch überhöht vom Schlagzeug eines kleinen Engländers.

„Phil Collins, du hast meine Jugend ruiniert“, meinte die Zitty. Ganz so schlimm war es nicht. Aber es muss festgehalten werden, dass es Zeiten gab, wo man im NDR2-Land auf der Suche nach einem passablen Radiosender zeitgleich auf allen vier verfügbaren Stationen immer nur ihn erwischte.

Das muss irgendwann auch Phil Collins zu viel geworden sein und er machte fortan alles richtig: Zog sich mit seiner blutjungen neuen Frau in die Schweiz zurück, produzierte nur noch Soundtracks für Filme, in die wir nicht gehen, und entschied sich jetzt, Schluss zu machen: Willkommen zur „First Final Farewell-Tour“. Phil, der alte „I can’t dance“-Ironiker. Immerhin glaubten das am Freitagabend aber genügend 40-jährige Berliner, um bei Ticketpreisen von 75 Euro die ausverkaufte Waldbühne zu füllen.

Gegen viertel vor neun betritt der Mann die Bühne, den wir zum Abschied gerne einfach nur „Phil“ nennen wollen. Phil trägt einen schlichten, irgendwie maoistisch anmutenden grauen Anzug, wahrscheinlich Armani. Phil, die alte ehrliche Haut, Phil, der seine Omme noch auf jedes seiner Albumcover hielt, dieser gewissen „Pimmeligkeit“ (Christian Kracht), wie sie den Köpfen korpulenterer Glatzenträger nun mal eigen ist, eiskalt ins Auge blickend, dieser Phil ist gut gealtert. Setzt sich erst mal ans Schlagzeug und hämmert ein fünfminütiges, komplett sinnloses Solo runter. Irgendwann kommt die Band (vier Bläser!) hinzu und es geht los, „Something happened on the way to heaven“, vom 89er Album „… But seriously“.

Als zweiten Song spielt Phil, der nie mehr touren wollte, den Song, den er live nie wieder spielen wollte („It just doesn’t touch me as it should do“): „Against all odds“. Das Mädchen neben mir singt leise mit, und der dicke Regenjackenträger vor mir reicht seiner Frau liebevoll das von zu Hause mitgebrachte, selbst geschmierte Brötchen.

Zwischendurch liest Phil „Viele Danke“-Ansagen auf Deutsch vom Blatt ab. „I know 30 years and I still have to read it, it’s pathetic“. Phil singt mit seiner Phil-Collins-Stimme, nur in den hohen Passagen kickt er ein wenig ins Mickey-Mouse-hafte weg.

Es ist ein schöner, lauer Abend, das Publikum feiert eine großartige „Das Beste der 80er, 90er und von heute!“-Show – und Entschuldigung für die Ironie. Phil singt a cappella den alten Cindy-Lauper-Hit „True Colors“ gemeinsam mit seinen „Clap your hands“-Backgroundsängern. Den Rezensenten befallen plötzlich stechende Kopfschmerzen und er muss das Konzert verlassen. Vielleicht war der Erinnerungsschock doch zu groß. Von den zehn bisher gespielten Songs kannte er jeden. Aber immerhin: 45 Minuten durchgehalten. Länger dauert auch die alte Chrom-Kassette nicht. ANDREAS MERKEL