Die Spannung im seidenen Faden

Fährtenleser und hellwacher Beobachter unserer wild durchschossenen Wirklichkeit: Der österreichische Schriftsteller Wolfgang Hermann konzentriert sich in seinen wunderbar kleinteiligen Büchern auf die Details – und sucht die Antworten auf die elementaren Fragen des Lebens lieber am Wegesrand

VON PETER HENNING

Ein Buch, so schrieb einmal Marcel Proust, ist ein optisches Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er sich selber klarer zu sehen vermöge. Dies gilt zweifellos für die seit 1987 kontinuierlich erscheinenden Arbeiten des 1961 im österreichischen Bregenz geborenen Autors Wolfgang Hermann. Ein aus nunmehr elf Gedicht- und Prosabänden bestehendes Werk, das scheinbar in Aphorismen, Reminiszenzen, Traumbilder und Funken zerstiebt und doch gerade in seiner Flüchtigkeit, ja vermeintlichen Ungreifbarkeit seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Reiz besitzt.

Seit nunmehr siebzehn Jahren publiziert der nach ausgedehnter Weltenbummelei wieder in Bregenz gestrandete Autor seine meist schmalen, in ihrer aphoristisch-lyrischen und bisweilen bewusst antisystematischen Art abgefassten Textsammlungen, die ihn über die Jahre zu einem verlässlichen Außenposten der deutschsprachigen Literatur gemacht haben. Hermann ist ein hellwach registrierender Beobachter und Kommentator unserer wild durchschossenen Wirklichkeit, den nach vielversprechendem Start 1987 mit dem im Hanser Verlag erschienenen Band „Das schöne Leben“ das Schicksal ereilte, eine Art Verlagsnomade zu werden. Ein Autor also, dem es offenbar nicht vergönnt scheint, mehr als zwei Bücher in ein und demselben Verlag zu publizieren.

So liest sich die Liste seiner Veröffentlichungen wie ein scheinbar zielloser Streifzug durch die Verlagslandschaft dieser Jahre: Hanser, Suhrkamp, Otto Müller oder Haymon – in all diesen Häusern machte Hermann für das ein oder andere Buch Station. Sich selbst freilich blieb dieser Autor bis auf den heutigen Tag treu. Und so gilt für sein neues, soeben im Salzburger Otto Müller Verlag erschienenes Buch „Das Gesicht in der Tiefe der Straße“ selbstredend, was kein Geringerer als Golo Mann bereits 1987 mit Blick auf Hermanns Prosadebüt „Das schöne Leben“ fragte: „Wie sollen wir diese Lesestücke benennen, wie charakterisieren? Poetische Prosa? Magischer Realismus? Träume, die Wirklichkeit vortäuschen?“

Man mag Wolfgang Hermanns bewusst fragmentarisch gehaltene und auf das Ausschnitthafte und Zündfunkenhaft-Helle des Augenblicks ausgerichtete Literatur im ersten Moment als anti-erzählerisch empfinden. Denn bis auf seine finster-faszinierende, 1997 im Suhrkamp Verlag erschienene Sammlung mit verdeckt autobiografischen Erzählungen, „In kalten Zimmern“, setzt der Österreicher durchweg auf Kurz- und Kürzesttexte, um seine kleinen oder großen Erleuchtungen zu zünden. Gleichwohl artikuliert sich in all seinen Miniaturen und konzis-knappen Bagatellen einer, der durchaus erzählt, nur eben auf engstem, geradezu architektonisch scharf umrissenem Raum.

Denn Hermann, der in seiner literarischen Ausrichtung Dichtern wie Louis-René des Forêts, Istvan Örkeny oder Phillippe Jaccottet und dessen „Antworten am Wegesrand“ sicher näher steht als den so genannten schnörkellosen Storytellern in der Nachfolge Hemingways, zelebriert von jeher eindrucksvoll das, was William Faulkner einmal das „Tanzen auf der Stelle“ nannte: ein literarisches In-sich-Kreisen, das seine subtilen Ekstasen ganz der Konzentration aufs Detail verdankt. Seine konsequente Weigerung dabei, „Ich“ zu sagen, also dem Erlebten eine biografische Kontinuität und retrospektive Deutung zu geben, verleiht seinen Büchern schließlich ihren einzigartigen Stellenwert.

Das Resultat eines solchen Schreibens sind epiphanieartige Momente, die in wenigen Sätzen die Essenz eines ganzen Lebens umreißen können. „Wer hier seinen Kaffee nimmt, unterschreibt einen Vertrag zur öffentlichen Nutzung seiner Blicke. Es ist das Café derer, die Bekanntschaft suchen und die vom Blickewerfen nicht lassen können, wie von einer Droge. Eine Frau um die vierzig, hinter Salatplatte und Champagner. Während sie speist, fällt von Zeit zu Zeit ein tiefer Blick für einen der jungen Männer ab. Eine Stunde später sitzt ein Mann mit Krawatte bei ihr, die beiden haben altvertraute Begegnungen.“

Wiederkehrend sind es Begriffe wie „Stadt“, „Bahnhof“, „Nacht“, „Reisen“ oder „Mann und Frau“, über die dieser Autor eingehend meditiert. Flüchtige Begegnungen, stumme Übereinstimmungen, Blicke in aufgrund sommerlicher Mittagshitze oder nächtlicher Kühle verwaiste Hinterhöfe oder hell erleuchtete Zugabteile – das alles vermag dieser Autor in einer wunderbar schwebenden und wie hingetupften Sprache einzufangen.

Einzelne Worte, Gesten oder auch nur ein zu langer indiskreter Blick können dabei Welten zum Einsturz bringen – und über Glück oder Unglück entscheiden. So heißt es dementsprechend in seinem neuen Buch in dem Kapitel „Paare“: „Kampfgerecht schreiten sie durch die Nacht, die Männer breit voran, die schulterstarken Frauen ihnen nach. Durch die Sehschlitze ihrer eng geschnallten Rüstungen blitzen die katzenäugigen Frauen jeden an, der sich in ihre Nähe wagt. So ziehen sie nachts durch die Straßen, belagern die Tore der unterirdischen Vergnügungspaläste, diese unwiderstehlichen Horden. Dort draußen herrscht Krieg, ein Krieg, der mit Blickfeuerwaffen, mit eng anliegenden Rüstungen, mit der Kunst des Trompe-l’OEil ausgetragen wird. Diesen Krieg aller Nächte zu bestehen, Beute zu schlagen oder lustvoll die Beute eines anderen zu werden, dafür schwärmen sie aus, gehen Bündnisse ein, verraten Kampfgefährten. Keiner weiß mehr, zu welchem Stamm er gehört. Es ist ein stummes Handgemenge im Unterholz, lautlos gleiten die Kämpfenden aneinander vorbei. ‚Und du, wehe du schaust mich (nicht) an.‘“

Man kennt derlei von Botho Strauß und dessen „Paare, Passanten“; doch wo Strauß den Dingen dereinst mit urbaner Direktheit zu Leibe rückte, setzt Hermann – wie auch in seinem ebenfalls soeben erschienenen „Japanischen Fährtenbuch“ – eher aufs Verschlüsselte, auf die verhüllte Andeutung. Derlei Feinziseliertes zielt bedauerlicherweise an den angeblichen Bedürfnissen des so genannten großen Lesepublikums vorbei. So ist dieser unterschätzte und insgesamt viel zu wenig gelesene Meister der literarischen Miniatur an den Rändern zu Hause. Ein Autor, in dessen Werk sich Klarsicht mit subtiler Vehemenz kreuzt, ein Kreisen am Ort mit der Exploration der Randzonen.

„Unterhalb unserer alltäglichen Existenz gibt es noch eine andere Welt – das Chaos – und darüber hängen wir an einem seidenen Faden. Aber der Faden hält“, schrieb einst der amerikanische Schriftsteller John Cheever in seinen bewegenden „Tagebüchern“. Von der Spannung in diesem Faden handeln Wolfgang Hermanns wunderbar kleinteilige Bücher.

Wolfgang Hermann: „Das Gesicht in der Tiefe der Stadt. Momente einer Stadt“. Otto Müller Verlag, Salzburg 2004, 158 Seiten, 16 €Ľ„Das japanische Fährtenbuch“. Verlag W. Neugebauer, Feldkirch/Graz 2004, 76 Seiten, 14,90 €