: So biegt der Raum sich selbst zum Loop
Ein letztes Mal Erschauern, dann kommt die Abstraktion: Die Fotografien Walter Niedermayrs zeigen Berghänge, Autobahntrassen, Friedhöfe und Operationssäle. Aus dem alten Wunsch, Fotografie solle den Augenblick festhalten, wird dabei ein bedrückendes Szenario der stillgelegten Zeit
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Das Licht schmerzt. Es ist so gnadenlos hell, als ob sich das Planetensystem in seinem Kreisen festgefressen hätte und nun keine Nacht mehr jemals den Tag ablöst. In den Landschaften und in den Räumen, wie sie Walter Niedermayr fotografiert, ist das Licht nicht nur die Bedingung allen Sehens und allen Abbildens, sondern zugleich deren bedrohlichster Widersacher. Denn alles droht zu verlöschen, auszubleichen, in Helligkeit zu schmelzen. Dieser Prozess begann in seinen Bildern aus den alpinen Tourismusgebieten, mit denen er in den 80er-Jahren bekannt wurde: von Hängen, Bergen und Pisten, die kahl geschliffen und zerfurcht erschienen von ihrer ständigen Abnutzung. Das Anhalten der Zeit setzt sich in seiner kalten Helligkeit fort in den städtischen Landschaften und Innenräumen, die Niedermayr seit den 90er-Jahren als in sich geschlossene Systeme ins Bild setzt. Er kesselt den Blick ein, er baut bildparallel Barrieren auf, seien es Bergwände oder Betonmauern, die das Eine, was wir sehen, stets ins Unendliche verlängern.
Und dennoch: Vor diesen Bildern beginnt man zu staunen. Etwas von dem Schauer kehrt zurück, den die Kunst der Romantik mit dem Erhabenen verband. Als das Sublime zur ästhetischen Kategorie wurde, das Staunen über die schiere Größe sich mit dem Schrecken vor dem Unfassbaren und der Sehnsucht nach Transzendenz verband, war das Gebirge in seiner Unzugänglichkeit der Topos, mit dem sich diese Vorstellungen am eindringlichsten verbanden. Damals wurden die Berge entdeckt, in ihrer ästhetischen Einmaligkeit und ebenso als Ziel des beginnenden Tourismus. In den Bildikonen, die diese Zeit hervorbrachte, war der Mensch im Gebirge ein Einzelner wie in Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Niedermayr entdeckt die Menschen überall, Sandhänge in Utah herabrutschend, mit Gummireifen und Snowboards im Schnee, mit Liften und Skiern sowieso: Als ob das Erhabene im Freizeitmenschen von heute nur noch den Impuls erwecken würde, es abzunutzen und kleinzukriegen. In diesem Aspekt ist Niedermayr sowohl Kulturkritiker als auch Verwalter des romantischen Erbes.
Doch zugleich nimmt er die Seherfahrungen der Abstraktion und des Minimalismus in seine Bildkompositionen auf. (Im Kino hat diese Kompositionsform, das ganze Bild mit einer Struktur zu besetzen und in einem All-Over zu gestalten, jetzt auch Effekt gezeigt in Zhang Yimous „Hero“.) Seine Ansichten sind stets monumental und monolithisch in ihrer Struktur und dabei doch unterteilt: mindestens in Doppeltafeln, meistens aber in eine ganze Wand von Ausschnitten, die teils horizontal aneinander stoßen, teils sich überschneiden, teils fast den gleichen Punkt zu unterschiedlichen Zeiten zeigen. So werden die Bildfläche und der Bildraum gedehnt, sie erhalten Schlaufen und Taschen und die Wiederholung einzelner Abschnitte potenziert die Ausweglosigkeit und das Endlose der Räume.
Manchmal gar gleichen die Berglandschaften Niedermayrs wie die „Graue Wand III“ der schematischen Darstellung auf Landkarten; nur mit dem Unterschied, dass hier kein Weg herausführt. Auch wenn man immer in eine Richtung läuft, ist man durch die Verschiebung und Wiederholung der Ausschnitte irgendwann wieder am Ausgangspunkt angekommen. So biegt der Raum sich selbst scheinbar zum Loop, und aus dem alten Wunsch, dass die Fotografie den „Moment einfangen will“ wird ein bedrückendes Szenario von der stillgestellten Zeit.
Das schlägt sich auch in seinen städtischen Landschaften nieder, die im Museum der bildenden Künste Leipzig den Landschaften gegenüberhängen. In „Artefakt 5“ krümmen sich um einen Parkplatz die doppelgeschossigen Zufahrten eines Verkehrssystems, das ausweglos in sich selbst zu kreisen scheint. In „Artefakt 6“ ist es gar ein Friedhof mit alten Grabsteinen auf einer grünen Wiese, der von Zäunen, Rampen und einer Skyline im Hintergrund gerahmt wird wie ein Medaillon: als ob alle Bewegung der Kultur letzten Endes in dieser stillen Mitte enden muss.
Es ist die eigene, kulturell kodierte Perspektive, das Menschengemachte des Blicks, das sich hier letztendlich als Gefängnis erweist. So ist es kein Wunder, dass die Innenräume, die Niedermayr unter den Titeln „Rohbauten“ und „Raumfolgen“ zeigt, als endlose Wartesäle des Lebens erscheinen, ob er nun auf Baustellen, in Gefängnissen, Fitness-Centern, Operationssälen oder in Leichenhallen war. In Leipzig hat man aus der eigenen Sammlung den grafischen Zyklus der Carceri/Kerker von Piranesi daneben gestellt, fantastische, verschachtelte Raumfolgen, die in endloser Verkettung von Gewölben den Raum umstülpen. Das passt und beleuchtet Niedermayrs Arbeit von ihrer metaphorischen Seite aufs Schönste.
Museum der bildenden Künste, Leipzig, bis 28. September, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 29 €