Das große Schweigen

Nach einer Europawahl waren sich die Landesparteien in ihrer Ratlosigkeit noch nie so einig. Zu viel hat sich verändert, zu wenig ist vorhersehbar. So wird aus der Wahl die Wahl des kleinsten Übels

VON UWE RADA

Noch nie war das landespolitische Berlin nach einer Wahl so kleinlaut. Natürlich, die Grünen jubeln über ihren 22,7-Prozent-Triumph, aber der war ja ein europäischer. Auf die nächsten Abgeordnetenhauswahlen angesprochen, fielen der grünen Landesvorsitzenden Almuth Tharan nur drei Worte ein: Bloß nicht Schwarz-Grün.

Kleinlaut auch der Regierende Bürgermeister. Zwar gab sich Klaus Wowereit nicht so ostentativ zerknirscht wie sein Brandenburger Leidensgenosse Matthias Platzeck. Doch sein „Wir halten Kurs“ kommt so schwunglos daher, wie es sich für einen geübten Tänzer eigentlich nicht schickt. Selbst die CDU wäre gestern am liebsten abgetaucht. Er hätte sich ein besseres Ergebnis gewünscht, sagte Landeschef Joachim Zeller – wohl wissend, dass seine Partei den Bundestrend der Angelika Merkel erneut halbiert hat. Zu guter Letzt meinte PDS-Landeschef Stefan Liebich, er sei besorgt wegen der „Umverteilung im linken Lager“. Selten waren sich Sieger und Verlierer in ihrer Ratlosigkeit so nahe.

Ist ja auch kein Wunder. Wie will man voll Optimismus auf die nächsten Abgeordnetenhauswahlen schauen, wenn noch nicht einmal die alte politische Semantik Bestand hat. Eine rot-grüne Landesregierung, für viele Berliner die Wunschkonstellation, muss seit gestern damit rechnen, zur grün-roten Landesregierung zu werden. Für einen Machtmenschen wie Wowereit natürlich undenkbar.

Hätten die Grünen in Thüringen den Einzug in den Landtag geschafft, hätte Berlin natürlich die ultimative Schwarz-Grün-Debatte. So aber wird die Diskussion geführt, indem man sie leugnet. Kommen wird sie trotzdem, die Frage ist nur: Was kommt mit Schwarz-Grün? Innovation oder eine Neuauflage der Klientelpolitik? Frischer Wind oder überwunden geglaubte Selbstlähmung? Und wäre Schwarz-Grün rechnerisch überhaupt möglich? Ein Ergebnis wie das vom Sonntag, das wissen auch die Grünen, ist bei Abgeordnetenhauswahlen nicht drin. Da kann man sich nicht mit flotten Eurosprüchen oder coolen Oppositionsgesten aus der Affäre ziehen. Schließlich steht über jeder Partei und Konstellation die Gretchenfrage: Was würden die anders machen?

Bleibt also alles beim Alten? Nein. Die Wahlsieger der gestrigen Wahl, vom Berliner Michael Cramer über den Thüringer Dieter Althaus, stehen für eine neue Glaubwürdigkeit in der Politik: keine Inszenierung, sondern Wahrheit, auch wenn die manchmal schwer zu verdauen ist. Das wird schwer werden für einen Regierenden Bürgermeister, der zwar immer noch der beliebteste Politiker der Stadt ist, seit gestern aber weiß, wie viel er sich dann, wenn es darauf ankommt, für diese Beliebtheit kaufen kann. Und es wird schwer für eine PDS, die mit Thomas Flierl und Harald Wolf zwar redliche Politikarbeiter hat, aber gleichzeitig keine Gelegenheit auslässt, dieselben genüsslich zu zerlegen.

Die ratlose Stille des gestrigen Tages wird alsbald schon wieder der tagesaktuellen Geschwätzigkeit weichen. Doch das wird die Wähler nicht sonderlich beeindrucken. Weil es im Grunde nur darum geht, von verschiedenen Übeln das kleinste zu wählen, werden sie in zwei Jahren womöglich entscheiden wie im Supermarkt: Nehmen wir heute das Klopapier von „Hakle feucht“ oder „Danke“? Bis dahin kann die Politik versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

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