England weinen sehen

Wahrheit-Sonderkorrespondenten von Ort: Flüche aus trockenen Kehlen

Unablässig brabbelnd schlurfte MV um die spätgotischen Säulen

Zuerst die gute Nachricht. Lissabon steht noch. Kein englischer Mob zog plündernd durch Bairro Alto, der Monsanto-Park wurde nicht umgepflügt, ein von vielen nach Zidanes Doppelschlag befürchtetes Erdbeben in den Dimensionen von 1755 blieb aus.

Am Sonntag sah man England weinen: Auf dem Rossio und in den Biergärten der Avenida da Liberdade und der Rua Augusta. 100-Kilo-Brocken weißen Fleisches zerfallen zu einem Bild des Jammers, verheulte Kantschädel hundsäugig der Sonne entgegengereckt, die Arme mit „Hope and Glory“-Tattoos fest um einen Plastikbecher Smirnoff-Wodka geschlossen, aus trockenen Kehlen kollerten Flüche wie Pflastersteine: „Fuck the France“, „Fuck Markus Merk“.

Den Wahrheit-Sonderkorrespondenten tat das alles furchtbar Leid und sie erinnerten sich an den alten irischen Folk-Song „Sitting in a Portuguese Pub watching England loose.“ Und was sollte man auch sagen außer „Don’t kick it like Beckham“? Aber das hatte ja schon Springers bild.de besorgt und grammatisch wie politisch unkorrekt vergeigt, in dem sie den Verlierern ein „Verkick it like Beckham“ entgegentitelte.

Hochmut dieser Art rächt sich schnell. Und die Wahrheit-Sonderkorrspondenten möchten gar nicht wissen, was morgen in der Sun steht, wenn Rudis Truppe heute Abend so blöde aussieht wie die „Nackten Kanonen 1–11“. Darum wird das Wahrheit-Duo beim Anpfiff hoch über den Wolken in den Sitzen lehnen und ein gutes Buch lesen.

Es ist nämlich so: Nach dem Besuch der Sé Catedral, wo der Priester in seiner Predigt fünfmal den Namen Figo flehentlich unter die Deckenfresken gejammert hatte, machte sich Kollege zur Nedden am Sonntag auf nach Bethlehem (Portugiesisch Belém) zum Mosteiro dos Jerónimos. Vermeintlich getrieben von touristischer Neugier. In Wahrheit aber, weil seit geraumer Zeit etwas wie Überdruss in ihm rumorte, ein vages Gefühl, das zwischen sportlicher Erschöpfung, nüchterner Selbsterkenntnis und spiritueller Erleuchtung changierte: War es möglich, dass er sich seit Kindertagen etwas vorgegaukelt hatte? Dass er sich überhaupt nicht für Fußball interessierte? Noch nie interessiert hatte? Sowieso nichts davon verstand?

Grüblerisch durch den Kreuzgang des Klosters schweifend, wurde ihm schlagartig klar, dass er anscheinend wirklich das weite Feld der Fußballwelt nicht bis in den letzten Torwinkel zu überschauen vermochte. Denn plötzlich bog Gerhard Mayer-Vorfelder um die Ecke. Der notorisch kregle Politiker und Multifunktionär des Fußballs war ein Schatten seiner selbst. Der gewöhnlich pumperlg’sunde Teint war einer Totenblässe gewichen, die weißer schimmerte als die Fassade des historischen Prachtbaus, und sein Boss-Anzug schlotterte um die abgemagerte Gestalt. Etliche deutsche Touristengruppen, die johlend seinen Namen brüllten, keines Blickes würdigend, schlurfte MV unablässig brabbelnd um die spätgotischen Säulen. Von dem, was er da litaneite, waren nur Brocken zu verstehen. Sie klangen wie: „Banco Espirito Santo“ – „DFB-Konten“ – „Blatter“ – „2006“ – „Alles aufgeflogen“ – „Aus, aus, aus, es ist aus. Deutschland ist verloren.“

Eine Viertelstunde später geriet MV ins Blickfeld des Kollegen Quasthoff, der in den Verwaltungsräumen des Klosters recherchierte. Bis hierher war er den Spielern Bobic, Novotny und Wörns gefolgt, die sich nun um einen Schreibtisch drängelten und um sofortige Aufnahme in die Ordensbruderschaft baten. Quasthoff hörte Bobic gerade die Worte: „Torflaute“ und „Weltekel“ sagen, als MV das Büro betrat und sich ebenfalls das Eintrittsformular aushändigen ließ. Der DFB-Chef unterschrieb sehr schnell und sagte: „Herr Völler und der Kaiser kommen dann wahrscheinlich morgen.“

Konfrontiert mit diesen mysteriösen Vorgängen wurde zur Nedden schlecht. Er nestelte Ticket und Mobiltelefon aus der Aktentasche und buchte zwei Plätze in der nächsten Maschine nach Frankfurt. Es sollte nicht nur sein Abschied von Lissabon, sondern wieder mal einer vom Fußball werden. Stattdessen würde er eine Partei gründen und seine Kandidatur für das übernächste EU-Parlament vorbereiten. In seinem Kopf verknäulte sich jetzt alles zu diesem dringlichen, quasi göttlichen Auftrag: der gesamteuropäische Fußballwahn und die desaströs geringe Wahlbeteiligung, der Schlafentzug, die permanente Hitze und nicht zuletzt die tägliche Ration an Maciera, die es ihm überhaupt nur ermöglichte, den Fußballwahn, die Prozentzahlen, den Schlafmangel und die wirklich brütende Hitze sowie das Fernsein von Frau und Kindern zu ertragen.

Quasthoff, der gleich gegen den Korrespondentenjob opponiert hatte, weil er lieber zu Hause vor dem Fernseher sitzt, flog gerne mit zurück. Er reiste allerdings nicht weiter ins heimische Hannover, sondern übernahm kommissarisch die Geschäfte in der DFB-Zentrale. Seine erste Amtshandlung. Für die Spiele gegen Tschechien und Lettland wird Brdaric aus- und Ailton eingebürgert und Fahrenhorst nachnominiert. Zum Endspiel der deutschen Elf gegen Italien will er wieder vor Ort sein.

Kopfschüttelnd stieg zur Nedden ins Taxi, vor seinen Augen materialisierte sich jene Rattelschneck-Zeichnung, die auch diesen Unsinn auf den Punkt brachte: „Die Deutschen! Die Deutschen! Wenn ich das schon höre, wenn ich das sage.“Aus Lissabon:
DIETRICH ZUR NEDDEN
MICHAEL QUASTHOFF