Jetzt kommt der Lumpensammler

Viele der neuen Abgeordneten sind nur schwer den traditionellen Fraktionen im EP zuzuordnen. Daher werden sie jetzt von vielen Seiten umworben

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Nun haben die Wähler also gesprochen. Mehr als 50 Prozent haben sogar vielsagend geschwiegen – aber das interessierte gestern in Brüssel kaum jemanden. 155 Millionen Wahlbeteiligte in der historisch größten Europawahl aller Zeiten; diese Superlative trugen sämtliche Parteichefs und Sprecher schon in der Wahlnacht und auch gestern wie ein Mantra vor sich her.

Es war nicht die Stunde der Nachdenklichen, sondern die der Parteistrategen. Dabei wurde am meisten über eine Partei geredet, die es noch gar nicht gibt: ein neues proeuropäisches Bündnis der Mitte, zu dem sich die alte liberale Fraktion mit tatkräftiger Unterstützung einiger konservativer und sozialistischer Abweichler mausern könnte. Graham Watson, derzeit Vorsitzender der liberalen Fraktion im Europaparlament, strahlte denn auch vor Begeisterung und kündigte „einen Sack voll guter Nachrichten“ an.

Die Liberalen haben ihren Platz als dritte Kraft behaupten und sogar ausbauen können. Nach der noch vorläufigen Sitzverteilung werden sie 66 Abgeordnete stellen, im Vergleich zu 53 im alten Parlament. Dabei muss aber auch berücksichtigt werden, dass das EP durch die Erweiterung um fast 18 Prozent von 626 auf 732 Sitze gewachsen ist. Rechnet man diesen Faktor mit ein, fällt der Zugewinn längst nicht mehr so beeindruckend aus.

Wachstumspotenzial gibt es aber in den Verhandlungen der kommenden Wochen. Die französische proeuropäische UDF hatte schon vor der Wahl damit geliebäugelt, die konservative Fraktion zu verlassen und sich mit den Liberalen zusammenzuschließen. Sie wird immerhin 11 Abgeordnete nach Brüssel schicken. Gleich nach der Wahl machte UDF-Chef François Bayrou den Liberalen einen ziemlich unverschlüsselten Heiratsantrag. Auch die meisten Parteien des italienische Ölbaum-Bündnisses gehören derzeit noch zur konservativen Fraktion oder den Sozialisten. 21 neue Mitglieder könnten sie den Liberalen beisteuern. Dafür hat sich Noch-Kommissionspräsident Romano Prodi stark gemacht.

Die Konservativen, die nach letzten Berechnungen 272 Sitze erhalten, müssten dann deutlich kleinere Brötchen backen. Zwar bleiben sie in jedem Fall die stärkste Kraft im neuen Parlament. Wenn ihnen aber die proeuropäischen Mitglieder davonlaufen, wiegt der antieuropäische Klotz aus 21 Torries und voraussichtlich 17 Forza-Italia-Vertretern deutlich schwerer.

Der EVP-Vorsitzende Winfried Martens versuchte gestern, dennoch fröhlich nach vorn zu blicken. Es könnten sich auch neue Bündnismöglichkeiten auftun – mit den voraussichtlich acht bis neun Abgeordneten der tschechischen ODS. Martens wiederholte noch einmal die in den vergangenen Wochen häufig vom Fraktionsvorsitzenden Hans-Gert Pöttering vorgebrachte Forderung, die stärkste Kraft im Parlament müsse den Kommissionspräsidenten stellen. Einen Tag vor dem entscheidenden EU-Gipfel am Donnerstag werden die EVP-Chefs sich in Brüssel treffen, um unter anderem diese Personalie zu beraten. Zehn Staatschefs sind dabei, die am nächsten Tag auf dem Gipfel ihr Gewicht in die Waagschale werfen werden.

Die Spekulation eines belgischen Journalisten, es sei vielleicht ein Deal denkbar, den liberalen belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt als Kommissionspräsidenten zu unterstützen, wenn der im Gegenzug den Gottesbezug in der Präambel der Verfassung nicht länger blockiert, wies Martens empört zurück. Diese beiden umstrittenen Themen hätten nun wirklich nicht das Geringste miteinander zu tun. Wer im Vorfeld der Wahl die Äußerungen der Parteichefs zu möglichen Abstimmungsbündnissen und Tauschgeschäften zwischen dem Posten des Kommissionspräsidenten und dem des Parlamentspräsidenten verfolgt hat, wird die Idee aber keineswegs für absurd halten.

Die Sozialisten hielten sich gestern mit Bündnisspekulationen auffällig zurück. „Wir sind keine Lumpensammler, sondern eine politische Familie. Menschen, die mit uns zusammenarbeiten, kennen unsere Identität“, sagte Noch-Fraktionschef Enrique Baron in Anspielung auf das Mitgliederwerben bei Konservativen und Liberalen. Diese ehrbare Enthaltsamkeit mag aber auch daher rühren, dass derzeit niemand Schlange steht, um bei den Sozialisten mitmachen zu dürfen.

Auch bei den Grünen ist das „Lumpensammeln“ verpönt; mit der lettischen Regionalistin Tatjana Zdanoka, die sich für die russische Minderheit in ihrem Land einsetzt, werden sie aber auch noch manchen politischen Spagat zu bestehen haben.

Bis zur ersten Sitzung des neuen Parlaments am 20. Juli in Straßburg wird hinter den Kulissen eifrig verhandelt und gerechnet werden. Völlig unklar ist, wie sich die 69 bislang heimatlosen Abgeordneten orientieren werden. Einige passen sicher in die Gruppe des eurorebellischen Dänen Jens-Peter Bonde, EDU. Andere werden sich den Antieuropäern anschließen. Für alle aber gilt: Die parlamentarische Gruppe muss so groß wie möglich werden, damit sie Ausschussvorsitzende stellen darf und federführend bei großen politischen Dossiers das Abstimmungsverhalten beeinflussen kann.