Grüne Absetzbewegungen sind unverkennbar

Die von Sieg zu Sieg eilende Ökopartei beginnt zu realisieren, dass sie bald auch ohne die SPD regieren könnte

BERLIN taz ■ Sensationell. Großartig. Fantastisch. Gestern, einen Tag nach der Europawahl, haben die Grünen schon wieder gewonnen: im Wettbewerb um die Verwendung der meisten Superlative bei der öffentlichen Kommentierung des eigenen Abschneidens. „Kaum zu glauben“ sei es, dass man den Stimmenanteil bei der Europawahl fast verdoppelt, dass man in Thüringen stark dazugewonnen und in den Großstädten Berlin, Frankfurt und München mit mehr als 20 Prozent sogar vor der SPD gelegen habe. Als offizielles Motto des Tages prangte in der Parteizentrale: „Grün gewinnt, weiter so!“

So weit die Fassade. So weit die ganz auf sich selbst bezogene Interpretation der Ereignisse des Sonntags. Auch Parteichefin Angelika Beer, die Thüringer Spitzenkandidatin Astrid Rothe und Europwahlgewinnerin Rebecca Harms hätten am liebsten nur über „das beste Ergebnis“ gesprochen, „das wir bei einer bundesweiten Wahl je erreichten“. Doch als die drei grünen Frauen dann Fragen gestellt bekamen, genügten drei Buchstaben als Stimmungskiller: S-P-D. „Für die Koalition in Berlin“, musste Beer einräumen, seien die katastrophalen SPD-Ergebnisse „natürlich nicht ganz einfach“.

„Nicht ganz einfach“ ist gut. Ein „Weiter so!“, das ist auch den Grünen klar, bedeutet, dass es mit der Regierungskoalition bald, möglicherweise nach der NRW-Wahl 2005, spätestens aber 2006, vorbei ist – grüne Erfolge hin oder her. Noch haben sich damit nicht alle Grünen abgefunden. Der Parteirat gestern geriet denn auch zu einer Therapiesitzung, bei der von Jubel wenig, von Ratlosigkeit viel zu spüren war. Was kann man tun, damit die SPD nicht noch weiter untergeht? Noch hoffen manche Grüne, mit einem neuen, gemeinsamen „Projekt“ ließe sich die Sache retten. Stichwort „Bürgerversicherung“. Man werde mit der SPD reden, wie man vor der Bundestagswahl zu einem gemeinsamen Konzept kommen könne, um sich gegen die Kopfpauschalen der CDU zu positionieren. „70 Prozent der Bevölkerung würden da hinter uns stehen“, hofft einer. Aber es klingt wie die Hoffnung auf ein Wunder.

Trotz aller Beteuerungen, man werde jetzt zusammenhalten: Die Absetzbewegungen weg von der SPD sind unverkennbar. Schwarz-Grün im Bund sei „keine Wunschvorstellung“, sagt Beer. Sie sagt nicht mehr: Das ist unmöglich. LUKAS WALLRAFF