Müntefering steht nicht Kopf

Der Parteichef will das Fahrrad nicht neu erfinden. Was die SPD braucht, um endlich aus ihrer Krise herauszukommen? Zeit, sagt er, vor allem Zeit

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Na selbstverständlich reden an so einem Tag alle aufgeregt durcheinander. Auf der nach oben offenen Richterskala routiniert-hilfloser Politikersprüche nach einem Wahl-Erdbeben hat die SPD an diesem Montag auf allen Ebenen etwas zu bieten. Die standhafte, leicht autoritäre Variante mit dem Kanzler höchstpersönlich: „Ich kann nur diese Politik weiterführen, und ich will nur diese Politik weiterführen.“ Die luftige Robin-Hood-Nummer mit der hessischen SPD-Chefin Andrea Ypsilanti: „Unsere Wähler warten auf ein Signal für soziale Gerechtigkeit.“ Die Pseudorebellion mit dem SPD-Linken Niels Annen: „Ich schließe nicht aus, dass wir auch über personelle Konsequenzen reden müssen.“ Das Niederschlagen der Rebellion mit Generalsekretär Klaus Uwe Benneter: „Wie soll sich denn einfach durch einen Personalwechsel hier in der Sache etwas ändern?“ Und als Gipfel all der Ratlosigkeit ihr Eingeständnis von Thüringens SPD-Vorsitzendem Christoph Matschie: „Ich bin ein wenig ratlos.“

Das baut Stress ab, zweifellos, aber es bringt die SPD angesichts ihrer Dauerdepression keinen Zentimeter voran. Dieses Durcheinandergerede richtet aber auch keinen größeren Schaden an. Für Auswege aller Art ist in der SPD ohnehin nur noch einer zuständig: Franz Müntefering, SPD-Chef, Fraktionsvorsitzender und Heiland der Partei. Der gibt an diesem Montag unumwunden zu, dass die ganze Tragweite des Wahldebakels erst heute massiv in sein Bewusstsein gedrungen sei. Die SPD-Ergebnisse in einigen Großstädten bezeichnet er als einfach „desaströs“. Und weil er weiß, dass das jetzt seine und nicht mehr allein Schröders Niederlagen sind, hat er mit einem flauen Gefühl im Magen am Morgen in die Zeitungen geschaut, von wegen „Münte-Defekt“ und so. Dann war er jedoch erleichtert: „Ich dachte schon, Sie stellen mich auf den Kopf“, sagt er zu den Journalisten, „und machen einen Baselitz aus mir.“ Aber nichts dergleichen war zu sehen, auch keines der berühmten „Bilder, die den Kopf verdrehen“ aus der Werkstatt des exzentrischen Malers.

Müntefering steht also fest auf beiden Füßen im Willy-Brandt-Haus und liefert nach der Sitzung des SPD-Präsidiums ganz Handfestes zur Erklärung des Unerklärlichen: Wie in drei Teufels Namen soll die SPD die nächsten Wahlen überstehen? Und wie aus ihrer Krise kommen?

Die Antwort des Parteichefs ist so simpel, dass sie von den Genossen fast schon wieder geglaubt wird: Bloß keine Panik, sagt er, die eigene Politik fortsetzen, das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Das ist alles. Kurskorrektur? „Nein, die Reformen sind notwendig.“ Kabinettsumbildung? „Nein, ist kein Thema.“ Mehr Disziplin in der Ministerriege? „Natürlich müssen wir geschlossen handeln, aber ich will auch eine diskussionsfreudige Partei.“

Müntefering gibt die Stichworte vor, die seine Genossen jetzt auswendig lernen sollen, damit sie an ihrer eigenen Partei nicht verzweifeln. Inhaltlich und konzeptionell müsse die Partei wieder erkennbarer werden. Die Agenda 2010 solle dazu nicht korrigiert, sondern „weiterentwickelt“ werden. Die Felder, auf denen die Partei das in den kommenden Monaten durchexerzieren will, reißt Müntefering nur an: Bildung, Bürgerversicherung, Gestaltung der Globalisierung, Reform des Föderalismus. „Wir müssen deutlich machen, dass die Agenda allen Wohlstand bringt, auch den Schwachen und den kleinen Leuten“, sagt er. „Wir könne nicht versprechen, dass das sofort passiert. Aber wir können sagen: Es wird so sein.“

Müntefering glaubt nicht daran, dass das alles nur ein Vermittlungsproblem ist. Die Menschen würden die sozialdemokratische Politik sehr wohl verstehen, sagt er. „Aber sie akzeptieren sie nicht.“ Den Beweis für die Richtigkeit der Reformpolitik könnten nur die praktischen Verbesserungen bringen, beispielsweise ein gerechteres Gesundheitssystem. Aber es dauere eben, bis die Menschen das in ihrem Alltag überprüfen könnten. „Wir haben keine Kaninchen, die wir aus dem Hut zaubern können“, sagt Müntefering. „Was wir brauchen ist Zeit. Vor allem Zeit.“

Wenn die SPD eines nicht hat, dann ist es Zeit. „Na ja“, schiebt Müntefering hinterher, „wir haben ja gerade ein Schaltjahr. Das ist ein bisschen länger. Vielleicht reicht es am Ende ja doch noch.“