Der Berg lallt

Irgendwo im Zwischenreich von Tanz-Theater und Kunst-Performance: Dorothea Ratzel und Melissa Logan suchen die Geister der Vergangenheit auf dem Monte Verità. Das Hamburger Publikum schicken sie dabei in die Irre – mit voller Absicht

Soll man sich sagen, dass unsere alltägliche, verständliche, klar strukturierte Wirklichkeit bloß eine Hilfskonstruktion ist?

VON MAXIMILIAN PROBST

Eine Axt liegt auf dem Boden. Das Spiel beginnt, eine Frau tritt auf die Bühne. Noch eine Frau tritt auf die Bühne. Ein Tisch, ein Muff, Stöcker werden ins Spiel gezogen. Und wieder fallen gelassen. Irgendwann ist das Spiel zu Ende. Die Axt aber durfte nicht mitspielen, durfte den Streich nicht führen. Nur einmal – wurde sie kurz beiseite gelegt.

Warum sie nicht mitspielen durfte? Nun ja, die Axt, darüber kann auch der weibliche Artikel nicht hinwegtäuschen, ist traditionell männlichen Geschlechts. Die Axt spaltet, haut entzwei, zerkleinert, zerstückelt, was mal zusammengehörte, die Axt sorgt für Kanten, für klare Linien, sie geht gradlinig durchs Gewirr. Daher ihre Nähe zum Verstand, zum trennscharfen Wort, zum Begriff, dessen Arbeit unvermeidbar der Wirklichkeit Gewalt antut. Und diese Axt war es nun, die zwei Frauen auf Kampnagel dem Publikum willentlich, fast bösartig vorenthalten haben; die Axt, die dem Verstehen die Bresche durch die Wälder von Symbolen hätte schlagen können.

Dabei hat das Stück „Memorie. Die Suche nach der alten Dame“ der Dramaturgin und Tänzerin Dorothea Ratzel und Melissa Logan vom Künstler-Kollektiv „Chicks on Speed“ eigentlich ein klar umrissenes Thema: unser kulturelles Erbe und die Frage, wie mit ihm umzugehen sei. Ein Mensch, der nicht vergessen kann, ist nicht überlebensfähig, referiert Ratzel zu Beginn des Stücks. Sie sagt: „Ahnen müssen sterben, sonst kommen sie als Poltergeister zurück. Und nerven.“

Diese Ahnen, muss man wissen, hausten auf dem Monte Verità: Der gilt heute als Wiege der Alternativ-Kultur. Um 1900 sammelte und entfaltete sich auf dem idyllischen Hügel über dem Lago Maggiore all das, was nicht ins Korsett des Wilhelminischen Reichs passte: Nacktkultur, Veganismus, Feminismus, Pazifismus, Anarchismus. Auch der Ausdruckstanz – „German dance“ – hat dort seine Wurzeln, unter dem Himmel südlicher Nächte zuckten die befreiten Körper wie lodernde Flammen und ließen das bürgerliche Ballett als Asche zurück.

Dorothea Ratzel hat den Berg aufgesucht und dort eine alte Dame aufgetrieben, deren Vater noch dabei gewesen ist als es hieß: Anders sein als alle anderen. Diese alte Dame hätte eigentlich in Hamburg auf der Bühne sitzen sollen, nur ist ihr leider das Grippe-Virus in die Quere gekommen.

Mit der alten Dame ist aber auch der Berg so gut wie abwesend geblieben. Nur einmal tanzt Ratzel in einem weiten, malvenfarbenen Kittel, das ist schön anzusehen und könnte eine Reminiszenz an den alten Ausdruckstanz sein. Dann zieht sie sich einen Muff übers Schienbein, und tritt auf als sei das Bein in Gips: vielleicht der nachgereichte Kommentar, wovon sich der Ausdruckstanz emanzipiert hat. Kurz darauf steht Ratzel knapp vor dem Publikum und keucht und keucht und keucht. Ob das mit einem steilen Aufstieg zu tun hat?

Vollends ins Dickicht der Verrätselung gerät das Stück dann mit dem Auftritt von Melissa Logan, und was ansatzweise Tanz-Theater war, wandelt sich zu einer Kunst-Performance. Plötzlich regieren grelle Farben die Szene, orange, lila, giftgrün. Und auf den Köpfen von Logan und Ratzel thronen Fantasiegebilde, Hüte, die mit einem Trichter und einer Sprechanlage versehen sind. Durch einen Schlauch sondern die beiden Frauen Geräusche ab. Das ganze ist von surrealer Komik, aber was hat es mit dem Thema zu tun, wie fügt es sich in das Stück?

Die nächste Szene, der nächste Bruch: Da haben sich Ratzel und Logan weitreifige schwarze Röcke über die Köpfe gezogen, nicht unähnlich einer Burka. Die Techno-Musik von eben verklingt, statt dessen erheben sich lang gezogene Töne. Die Stimmen von Ratzel und Logan steigen, fallen, nähern sich einander an und fallen wieder auseinander. Ein Hauch von Archaik weht durch den Raum.

So geht das Stück weiter und reiht aneinander, was nicht zusammen gehört. Und was macht man damit? Soll man sich sagen, dass es zum Wesen des wahrhaft Schrägen gehört, ins Unverständliche zu kippen? Oder soll man sich vielmehr sagen, dass unsere alltägliche, verständliche, klar strukturierte Wirklichkeit auch bloß eine Hilfskonstruktion ist, eine Fiktion, mittels derer wir uns die wahnwitzige Unordnung der Dinge vom Leibe halten?

Sicher: Gespenstisch ist diese „Suche nach der alten Dame“. Eine Art Geisterbeschwörung, ein Aufbruch ins Vorsprachliche. Das ist sehr mutig – aber auch ein wenig ermüdend.

Wer’s erträgt, wird belohnt – auf seltsame Weise. Denn das Stück hat selber Poltergeist-Qualitäten. Die unverständlichen Bilder bleiben im Kopf hängen. Und nerven. So ist das mit der Kunst.

weitere Aufführungen: 28. bis 31. 1, jeweils 20 Uhr, Hamburg, Kampnagel