Blasen an der Seele

England ist nach dem Niederlagendrama gegen Frankreich um Normalität bemüht. Ob diese eintritt, dürfte sich heute gegen die Schweiz zeigen

AUS LISSABON RONALD RENG

Zwei Tage danach erschien er nicht zum Training. Es sprach sich schnell herum, dass es mit dem zusammenhänge, was ihm in der Sonntagnacht zugestoßen war, als er im Spiel gegen Frankreich einen Elfmeter verschossen und England durch zwei Gegentore in der Nachspielzeit 1:2 verloren hatte. Die Auswirkungen der Partie spürte David Beckham am Dienstag noch immer – wenngleich es nicht die erwarteten waren. Erschöpfung, Traumata, Depressionen? Er hatte Blasen am Fuß.

„Ja, Blasen“, sagte er, als er später kurz auf dem Trainingsgelände der englischen Elf vorbeischaute. Er musste über den Grund seiner Trainingspause selbst lachen. Dass eine Partie, die solch großen Herzschmerz hervorrief, an sichtbarsten Spuren ein paar winzige wunde Stellen am Fuß hinterließ, war schon wieder lustig. Wie sehr die traumatische Niederlage jedoch noch in ihnen arbeitet, können der berühmteste Fußballer der Welt und seine Elf nicht wissen. Man kann glauben, man habe den Schlag überwunden, und im nächsten Spiel – man weiß nicht, wie einem geschieht – ist man fahrig, blockiert, gelähmt.

An diesem Donnerstag in Coimbra beim zweiten Vorrundenspiel gegen die Schweiz wird sich feststellen lassen, ob die englische Nationalelf auch wirklich in dieser Woche angekommen ist. Oder ob in ihren Köpfen noch immer Sonntagnacht ist. Beispiele von Mannschaften, die sich bei einem Turnier von einer einzigen rüden Niederlage nicht mehr erholten, gibt es zur Genüge. England braucht nur seine Peiniger von Sonntag anschauen: Frankreich, angeblich beste Elf der Welt, verlor das Auftaktspiel bei der WM 2002 gegen Senegal. Und kam niemals zurück.

England wirkte am Tag vor der Abreise nach Coimbra, Beckhams kämpferischem Optimismus zum Trotz, nicht wie ein Team, das sich schon von der unerträglichen Schwere des Seins befreit hätte. Ohne Regung spulten sie ihr Training herunter. Keine Scherze, keine Triumphschreie, noch nicht einmal ein „fuck!“. Es gibt kein Patentrezept, um sich der Dynamik einer Niederlage zu entziehen. Englands Trainer Sven-Göran Eriksson versuchte es, indem er das Geschehene in den Tagen danach so weit wie möglich ignorierte. Zwei Minuten sprach der Schwede bei einer Teamsitzung über das 1:2, dann überließ er die Spieler der Selbstheilung. „Das Spiel ist passiert. Es wird niemals wieder passieren“, sagte er. Nicht nur einmal wurde Eriksson vorgeworfen, er sei introvertiert, keiner, der eine Elf anstacheln könne. Er glaubt an die Kraft der Fachkompetenz und Rationalität, und in diesem Fall scheint sein Ansatz nicht unlogisch: Er redete in Sitzungen über die Eckballvarianten der Schweizer, er versuchte, die Normalität aufrecht zu halten. Das suggerierte: Es ist doch nichts passiert. „Mit Siegen gegen die Schweiz und Kroatien wären wir immer noch fürs Viertelfinale qualifiziert“, sagte Torwart David James.

Als typischer Torhüter hatte James seine ganz eigene Art, mit der Frustration umzugehen: Er verstärkte sie, indem er sich das Frankreich-Spiel noch einmal auf Video anschaute. Er fahndete nach Fehlern – und natürlich fand er welche: „Ich hätte bei beiden Toren besser handeln können.“ Vor dem Spiel hatte er sich extra ein Video mit Freistoßtricks der Franzosen angeschaut, und dann setzte ihm Zinedine Zidane einen Freistoß ins Tor. „Aber Moment mal“, fiel es James jetzt ein: „Da war gar kein Freistoß von Zidane drauf! Ich muss mal ein ernstes Wort mit meinem Kumpel reden, der mir die Kassette gab.“ Oder mit David Beckham: Der sorgte dafür, dass es von Zidane kein Bildmaterial gab. Beckham schießt bei Real Madrid so viele Freistöße, dass sein französischer Vereinskollege gar nicht rankommt.

Niemanden hat die Niederlage heftiger getroffen als Beckham. Dies ist sein Team, sein England. Nach dem Spiel fand ihn Trainer Sven-Göran Eriksson in der Umkleidekabine, alleine. Eriksson tröstete ihn nicht. Er sagte ihm, er, der Kapitän, müsse das Team wieder aufrichten. Vermutlich kann es keine bessere Therapie geben: Beckham beschäftigte sich damit, den anderen die Leichtigkeit zurückzugeben, so hatte er wenig Zeit, in den eigenen Zweifeln zu brüten. „Ich laufe durchs Hotel und setze ein Lächeln auf“, sagte er. Kein Sportler kann so eine Niederlage vergessen. Wenige können sie so gut verdrängen wie Beckham. Er lächelte, und das Lächeln sagte: Es sind doch nur ein paar Blasen.