Edgar-Fußball am Ende

Nach dem 1:1 sind sowohl die deutsche als auch die niederländische Nationalmannschaft erleichtert. Unklar aber bleibt, ob denn nun krisengeschüttelte Gurkentruppen oder große Teams zu sehen waren

Advocaat: „Meine Spieler hatten mehr Probleme mit sich als mit den Deutschen“

AUS PORTO MATTI LIESKE

Selten waren deutsche und niederländische Fußballer sowie deren Fans so einträchtig glücklich. Auf der einen Seite ließen sich die Holländer von ihren Anhängern bejubeln, auf der anderen paradierten die deutschen Spieler vor ihrem Fanblock und nahmen Standing Ovations entgegen. Das Spiel, nur zur Erinnerung, ging 1:1 aus. Kein idealer Start in ein EM-Turnier, aber ein akzeptabler.

Der Grund für die beidseitige Zufriedenheit war jedoch nicht das schnöde Resultat, sondern hier feierten zwei Teams, die gerade eine veritable Identitätskrise bewältigt hatten. „Wir wussten ja selber nicht richtig, wo wir stehen“, sagte Michael Ballack später, „jetzt können wir beruhigt in die nächsten Spiele gehen.“ Nicht nur die beiden Schlappen gegen Rumänien und Ungarn in der Vorbereitung hatten offensichtlich mehr auf den Seelen der Spieler gelastet, als sie vorher zugeben wollten, sondern vor allem ein anderer, von Ballack benannter Umstand machte ihnen zu schaffen: „Wir haben ja zuletzt die Spiele gegen große Gegner immer verloren.“ Nun, so der Mittelfeldspieler, der zum besten Akteur des Matches gewählt worden war, „steht fest, dass wir gegen die Großen bestehen können“.

Ob die Niederländer wirklich zu den Großen zählen, darüber waren diese selbst sich vor der Partie überhaupt nicht im Klaren gewesen. Auch sie hatten zuletzt verloren, interne und externe Diskussionen über das Spielsystem für beträchtliche Zerrüttung im Team gesorgt. Der Mangel an Selbstvertrauen schlug sich in der vorsichtigen Taktik nieder, die Coach Dick Advocaat seinen Leuten zu Anfang verordnete. Nicht nur, dass sich die Holländer mit ihrem massiven Mittelfeld und Ruud van Nistelrooy als einziger echter Spitze der eigenen Stärken beraubten, wie der weise Franz Beckenbauer schon vorher bemerkt hatte, sie verzichteten auch darauf, die Schwächen der Deutschen zu nutzen. Diese bekommen immer dann Probleme, wenn ihre Abwehr mit schnellem, trickreichem Spiel unter Druck gesetzt wird, der behäbige, auf Querpässe angelegte Edgar-Davids-Fußball, mit dem die Holländer aufwarteten, war für sie Manna und Ambrosia in einem. „Wir konnten unsere Spitzen nicht erreichen“, bemängelte Advocaat und meinte, seine Spieler hätten „mehr Probleme mit sich selbst gehabt als mit dem Spiel und den Deutschen“.

Bald bekamen sie aber auch Probleme mit den Deutschen, die mit jeder Minute besser in das Spiel hineinwuchsen. Etwas ängstlich und rückwärts gewandt hatten sie begonnen, doch als sie merkten, das der große Druck des Gegners ausblieb und dass sie ihre Kontrahenten gut im Griff hatten, begannen sie, Mut zu fassen und nach vorn zu spielen. Das glückliche 1:0 brachte dann einen wahren Schub an Selbstbewusstsein, der vor allem Michael Ballack und Kevin Kuranyi fortan bei jeder Aktion anzusehen war. „Wir hatten nicht nur eine gute Ordnung, sondern das Spiel sogar im Griff“, freute sich Teamchef Rudi Völler, Ballack fand: „Wir haben uns gut bewegt, sind gut nachgerückt.“ Mit anderen Worten, die eigenen Stärken wurden perfekt umgesetzt, auch weil die Schwächen unangetastet blieben.

Das war allerdings Dick Advocaat nicht verborgen geblieben. „Die erfahrenen Spieler kommen bei mir an erster Stelle“, sagt zwar Hollands Trainer, doch selbst er musste erkennen, dass der holländische Davids-Fußball genau so obsolet ist wie der portugiesische Rui-Costa-Fußball. Edgar Davids kann Bälle erkämpfen, Bälle sichern, Spielzüge einleiten, aber er kann sie nicht zuspitzen. Wenn er dauernd den Ball bekommt, weil er immer anspielbar ist, bedeutet das eine komplette Lähmung des Spiels. Deshalb musste er zur Pause draußen bleiben, für ihn kam der junge Sneijders, „der penetrieren kann“, wie es Advocaat ausdrückt, und mit dem Dribbler Marc Overmars eine gehörige Portion Gift für die deutsche Abwehr. Die Niederländer brauchten eine Viertelstunde, bis sie ihre neue Formation begriffen hatten, dann übten sie endlich den Druck aus, der ihnen in der ersten Halbzeit gefehlt hatte. Als noch Van Hoojdonk kam, der fast jedes Kopfballduell gewann, hatte auch Holland den Glauben an sich selbst wiedergefunden. Die Einwechslung von Bastian Schweinsteiger im DFB-Team erfüllte dagegen ihren Zweck, sich etwas aus der Umklammerung zu befreien, nur teilweise. Der Münchner hatte zwar einige gute Aktionen im Angriff, destabilisierte aber mit prekären Ballverlusten die Abwehr. Das Tor zum 1:1 fiel dann so logisch, dass weder Völler noch Ballack sich groß über die vorangegangenen Fehler aufregen mochten.

Rudi Völler schaffte es sogar, dem Unentschieden trotz „kurzfristiger Enttäuschung“ Positives abzugewinnen. So verfalle man vor dem kniffligen Lettland-Match am Samstag wenigstens nicht in Selbstzufriedenheit. Beim Gedanken an die vorwitzigen Balten ist beiden Trainern nicht ganz wohl, denn ein Stück der Identitätskrise ist geblieben. Zwar wissen Deutsche und Holländer jetzt, wie sie zueinander stehen, aber ob das Match in Porto nun wirklich ein Treffen zweier großer Teams war oder eher zweier Gurkentruppen, muss sich erst noch herausstellen.