Ziemlich zornig

Jürgen Habermas legt einen neuen Band Kleiner politischer Schriften vor. Darin rechnet der Philosoph, der morgen 75 wird, mit George W. Bush ab

VON ROBERT MISIK

In meinem Fundus an Schnurren, Abteilung „Begegnungen mit großen Männern“, hat die folgende seit Jahren ihren fixen Platz: Es war irgendwann Mitte der Neunzigerjahre, da ging ich gemeinsam mit einer Hand voll deutscher Geistesgrößen ins Kaffeehaus. Unter ihnen der bedeutendste lebende Philosoph, Jürgen Habermas. Ich war wie elektrisiert: Vor mir lag eine bestimmt unvergessliche Begegnung! Und es begann viel versprechend. An dem runden Kaffehaustisch kamen wir ziemlich nahe beieinander zu sitzen. Wir reichten uns die Hand. Ich sagte: „Misik.“ Er sagte: „Habermas.“

Worauf sich der Großdenker den Rest des Abends der Dame an seiner Rechten zuwandte.

Ein Erlebnis war aber immerhin der gemeinsame Weg in das Kaffeehaus gewesen, von der Frankfurter Universität ein paar hundert Meter über die Bockenheimer Landstraße. Die Passanten blieben stehen und blickten entrückt. Ein Philosoph, der auf der Straße erkannt wird – damit ist schon viel über Jürgen Habermas’ öffentliche Stellung gesagt.

Morgen wird Habermas 75 Jahre alt. Und pünktlich bringt der Suhrkamp-Verlag einen neuen Band mit Einwürfen des Jubilars heraus, eines jener bunten Editions-Bändchen, die der Autor nunmehr schon seit Jahrzehnten und nicht ohne Understatement mit dem Untertitel „Kleine politische Schriften“ versieht. „Der gespaltene Westen“, so heißt der aktuelle Titel; zwei miteinander verbundene Großthemen treiben Habermas in den darin versammelten Aufsätzen, Interviews und Vorträgen um: die Frage der Identität Europas sowie die Folgen des 11. September und des Irakkrieges, insbesondere für das Völkerrecht.

Die Spaltung, die dem Band den Titel gibt, verläuft zwischen den USA und Europa, auch mitten durch die Gesellschaften selbst, und sie zieht sich quer durch den alten Kontinent. Der transatlantische Hader traf in unseren Breiten auf eine Konstellation des Gegensatzes zwischen den Nationen, die eine Vertiefung der europäischen Integration wünschen, und jenen, die den bestehenden Modus nicht verändern wollen – bedacht auf ihre nationalstaatliche Souveränität. Demgegenüber setzt Habermas auf zweierlei, und er hat das vor einem Jahr in einer spektakulären Initiative (etwa in einem gemeinsamen Text mit Jacques Derrida) auch öffentlich gemacht: auf vertiefte Integration, wenn nötig in einem Kerneuropa, und auf die Entstehung eines Gefühls der Zugehörigkeit in einem „europäischen Gemeinwesen“. Die Voraussetzungen dafür sieht Habermas gegeben: eine spezifisch europäische Mentalität, die von Achtung vor dem Sozialstaat, dem Respekt vor der Trennung von Religion und Politik geprägt ist und vor allem von der historischen Erfahrung der fatalen Folgen imperialer Aktivitäten.

Alles Grundlagen eines europäischen Bewusstseins, das irgendwann womöglich mit dem modernen Nationalbewusstsein vergleichbar sein könnte, so Habermas’ Credo – und, in Maßen jedenfalls, auch von der Abgrenzung gegen Amerika lebt. Von daher könnte der stockende europäische Verfassungsprozess genährt werden, auch eine europäische Sozialpolitik könnte durch innereuropäische Solidarität Legitimität erlangen.

Bis in die Neunzigerjahre, so Habermas’ zweiter wesentlicher Punkt, waren europäische und amerikanische Mentalität zumindest in einem gemeinsamen Takt. Auch die USA, obzwar global stärkste Kraft, setzten auf eine Verrechtlichung der internationalen Ordnung. Erst die Bush-Doktrin wandte sich davon ab mit dem, was Habermas den „hegemonialen Liberalismus“ nennt. Doch selbst wenn man zubilligen würde, dass es diesem wirklich und ehrlich darum zu tun ist, die Welt freier und friedlicher zu machen, wie das die Rhetorik des regime change nahe legt, so schießt sich unilaterale Hegemonialpolitik mit der Abkehr vom internationalen Recht selbst ins Bein, hadert Habermas. Denn der Erfolg solcher Operationen hänge nicht nur vom guten Willen des Hegemons ab, sondern davon, ob dessen Argumente „auch von anderen Nationen geteilt werden könnten“. Mit anderen Worten: ob die anderen dessen guten Willen auch anerkennen. Eine solche Anerkennung garantieren, auf globaler Ebene, nur die vorhandenen verrechtlichten Verfahren.

Völlig neu sind diese Thesen bei einem Mann, der sich regelmäßig öffentlich äußert, natürlich nicht – und doch verwundert gerade beim (zum Teil: nochmaligen) Lesen der drängende Ton. Euphorie und Zorn wechseln sich ab. Euphorie, wie sie in der schon berühmten Habermas’schen Feier der europaweiten Antikriegsdemonstrationen vom 15. Februar 2003 durchschlägt, an einem Tag, den er „als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen“ sah; Zorn über die Zerstörung dessen, was im Prozess ziviler Hegung internationaler Konflikte schon erreicht worden war, durch die neokonservativen „Revolutionäre“ um Bush. Dies alles wird vorgebracht mit der Geste, die insinuiert: Die Zeit drängt. Heute gelesen, kontrastiert Habermas’ Europapathos zumindest seltsam mit dem eigentümlichen Durchhänger, den das Projekt der europäischen Integration dieser Tage erlebt.

Jürgen Habermas: „Der gespaltene Westen“. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 193 Seiten, 10 €