Grenzerfahrung Alltag

Immer mehr Künstler ziehen neuerdings nach Neukölln und suchen eine Konfrontation mit sozialen Problemen und subkulturelle Lebensformen, die sie in Mitte oder Prenzlauer Berg nicht mehr finden

Wenn man hier rausgeht, sieht man interessante Leute, man ist näher dran

von SANDRA LÖHR

Nein, er hat keine Angst, ganz alleine in dem alten Haus zu wohnen, im Gegenteil, seine Wohnungstür steht immer offen. „Mit alten, leer stehenden Häusern kenne ich mich aus. Damit bin ich schließlich in den Neunzigern in Mitte aufgewachsen.“ Angst sollen aber die haben, die sich Tim Schneiders „KARMANOIA Gruselkabinett“ im Keller des Hauses angucken – oder zumindest sollen sie merken, dass Kunst aus Neukölln ein bisschen anders ist und manchmal erst so richtig gut ist, wenn sie auch ein bisschen wehtut.

Und so quetscht man sich durch einen engen Schaumstoff-Schlitz hindurch und landet in einem modrig riechenden Dunkel voller Überraschungen. Mal gibt der Boden ein wenig nach, mal leuchten Gesichter in der Dunkelheit auf. „Ich will, dass es da unten ein bisschen existenziell wird und die Leute ihre Sinne benutzen müssen. Ich finde es wichtig, solche Grenzerfahrungen zu machen“, sagt Tim Schneider zu seiner begehbaren Installation, einer Mischung aus Kunstausstellung und Geisterbahn. Genau wegen solcher Grenzerfahrungen ist der 23-jährige Ostberliner vor ein paar Jahren aus dem heimeligen Mitte ins raue Neukölln gezogen. In der Sophienstraße aufgewachsen, bot die Gegend um das Tacheles und die Oranienburger Straße für ihn nach der Wende den idealen Abenteuerspielplatz und Anschauungsunterricht für subkulturelle Lebensformen. Doch Ende der Neunzigerjahre hatte er genug von den immer größer werdenden Touristenströmen rund um den Hackeschen Markt.

Er zog in das baufällige Mietshaus nach Neukölln, in dem er jetzt seine Geisterbahn aufgeschlagen hat. Weil der Besitzer nicht sanierte, zogen nach und nach alle anderen Mieter aus. Nur Tim Schneider blieb. Seit über zwei Jahren lebt und arbeitet er hier nun allein und nutzt drei Wohnungen auf einer Etage als Wohn- und Arbeitsräume. Trotz Kohleofen und Klo auf halber Treppe ein paradiesischer Zustand, wie er findet. In seiner Arbeitswohnung wetteifern psychedelische Seventies-Tapeten der türkischen Vormieter mit seinen auf Leinwand gemalten abstrakten Bildern. Im nächsten Raum ist Platz für ein riesiges Holzbrett für die tägliche Stepptanzübung, und im Erdgeschoss gibt es sogar eine kleine Bar: „So was gibt’s in Mitte gar nicht mehr“, sagt er.

Tim Schneider ist nicht der einzige, den es in den letzten Jahren in den garantiert szenefreien, dafür multikulturellen Arbeiterbezirk gezogen hat. Neukölln mit seinen 300.000 Einwohnern, einst vom Spiegel als sozialer Brennpunkt beschrieben und mit Attributen wie Armut, Verwahrlosung und brutaler Gewalt bedacht, dient mittlerweile immer mehr Künstlern als inspirierende Gegenwelt zum schicken Bezirk Mitte. Besonders die billigen Altbauwohnungen im Norden mit Anschluss an Kreuzberg werden gern genommen. „Wir merken an der Anzahl der eingereichten Projektanträge, dass in den letzten Jahren immer mehr Künstler nach Neukölln gezogen sind“, bestätigt dies auch die Leiterin des Kulturamts Dr. Dorothea Kolland.

Garantiert szenefrei: Neukölln ist eine inspirierende Gegenwelt

Trotzdem halten sich Vorurteile hartnäckig. Zwar befindet sich die Neuköllner Kunstszene im Aufwind, aber die Mitarbeiter des Kulturnetzwerkes, die seit 1999 alljährlich das Kunst- und Kulturfestival „48 Stunden Neukölln“ auf die Beine stellen, müssen bei Sponsoren noch immer gegen das negative Image des Bezirks anreden. Dabei sind es für viele Künstler nicht nur die billigen Wohnmieten, die sie zu Neuköllnern werden lassen, sondern für viele wird gerade die Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen des Bezirks zum Bezugspunkt in ihrer Arbeit. So wurden beispielsweise Ingo Baumgartens fotorealistische Malereien der menschenleeren Stadtlandschaften Neuköllns in einer Galerie in Tokio ausgestellt, und auch die Malerin Ruth Hillebrand Dane, die mit Kollegen in einem Atelier in der Sonnenallee arbeitet, braucht Neukölln zur Stimulation für ihre Bilder: „Wenn ich hier rausgehe, sehe ich interessante Menschen. Ich bin einfach näher an der Wirklichkeit.“

Wäre es so gesehen nicht ein Glück, wenn es Berlin nie schaffen würde, eine Stadt wie London oder New York zu werden? Wenn sich, da Bezirke wie Mitte oder Prenzlauer Berg für junge Künstlergenerationen zu etabliert, zu teuer oder schlicht zu langweilig geworden sind, immer wieder neue Freiräume auftun würden? Künstler wie Tim Schneider jedenfalls, die mit dem Provisorischen arbeitem, tragen dazu dabei, dass es in dieser Stadt nicht so schnell langweilig werden wird. Vielleicht macht er aus dem Haus, in dem er wohnt, eines Tages sogar ein subkulturelles Kultur- und Kunstzentrum. Und sollte dann ein reicher Neuköllner Mäzen auftauchen, der das Projekt fördert, dann zieht Tim Schneider vielleicht nach Wedding weiter.

Die Installation „Das KARMANOIA Gruselkabinett“ ist am Samstag (19. 7.) und Sonntag (20. 7.) von 19–24 Uhr geöffnet. Mainzer Str. 5, Neukölln