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Der Ex-Merdinger Jan Ullrich gibt sich weiterhin bescheiden. Beim heutigen Zeitfahren könnte er dennoch zu Armstrongs Hauptkonkurrent werden

aus Lignan sur OrbeSEBASTIAN MOLL

Tobias Steinhauser konnte nicht einmal mehr aufrecht sitzen. So sehr hatten die ersten zehn Tour-Tage den Teamkameraden von Jan Ullrich in Mitleidenschaft gezogen, dass er am liebsten den ganzen Ruhetag in der Waagerechten verbracht hätte. Immerhin: Er bemühte sich von seinem Zimmer in den schattigen Garten des Château de Lignan, wo das Team Bianchi Quartier bezogen hatte. Dort fläzte er sich in einen Gartenstuhl und bewegte sich den Nachmittag lang nicht mehr von der Stelle. Die Arbeit als Helfer in der Mannschaft eines Tour-Favoriten hatte den Mann, der die vergangenen drei Jahre für Gerolsteiner fuhr, doch arg strapaziert.

Jan Ullrich, sein Freund und Chef, ließ sich nicht so gehen. Er hatte am Vormittag ein wenig trainiert und hielt nun auf der Wiese vor dem Schlösschen eine Pressekonferenz ab. Über die Härten der vergangenen Tage sprach freilich auch er, erzählte, wie dreckig es ihm in den Alpen ergangen sei, nach seiner Magenverstimmung. Ein Wunder sei es, dass er überhaupt noch im Rennen sei, behauptete er. Doch anders als seinem geschundenen Helfer Steinhauser wollte man das dem Kapitän von Bianchi nicht so recht abnehmen.

Ullrich hält sich in der Tour bislang prächtig. Nach knapp der Hälfte der Rundfahrt mischt er noch mit um den Sieg: Zwei Minuten und 20 Sekunden Rückstand hat er vor seiner Lieblingsdisziplin Einzelzeitfahren am heutigen Freitag auf Lance Armstrong: „Sonst ist Lance nach den Alpenetappen vier bis sechs Minuten vorneweg“, erinnert sich Ullrich an die beiden bisherigen Duelle in den Jahren 2000 und 2001. Zwischen ihm und Armstrong liegen vorwiegend Fahrer, die zwar im Gebirge stark sind, denen das Zeitfahren jedoch weit weniger liegt als Ullrich. Und wie stark Armstrong in diesem Jahr im „contre la montre“ ist, ist auch nicht klar: Nimmt man den Prolog als Indikator, ist Ullrich in seiner Spezialität – dem einsamen Kampf gegen Wind und Uhr – Armstrong überlegen.

„Alles ist möglich“, sagt mittlerweile sogar Ullrichs Teamchef Rudy Pevenage, der vor der Tour betont darum bemüht war, die Erwartungen zu dämpfen. Ebenso wie Ullrich selbst. Vielleicht eine Etappe zu gewinnen war die einzige Zielsetzung, auf die sich Ullrich und Pevenage vor dem Start festlegen wollten. Davon ist mittlerweile jedoch keine Rede mehr. Ullrich fährt um das Maillot Jaune: „Wenn ich in den Pyrenäen einen Haufen Zeit verliere, kann ich ja immer noch umdenken und eine Etappe anpeilen“, erläutert er.

Insofern wirkt die angebliche Freude darüber, überhaupt noch mit dabei zu sein, wie blanke Koketterie. Ullrich hat sich seit seiner Krise Zurückhaltung auferlegt und stapelt deshalb lieber tief: „Ich komme von ganz unten, und das darf ich nicht vergessen. Ich habe gelernt, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.“ Einerseits. Andererseits kommt er aus seiner Haut als Champion, als Siegfahrer, nicht so einfach heraus. Glaubt man Tobias Steinhauser, hat Jan Ullrich selbst in den Tiefen seiner Depression des vergangenen Jahres seinen Siegeshunger nie verloren.

Niemand hatte Ullrich den Anstoß gegeben, wieder ins Training einzusteigen. Von alleine rief er seinen Freund aus Zeiten der Nationalmannschaft an und bat Steinhauser, ihn im Winter mit in die Toskana zum Trainieren zu nehmen. Da war Ullrichs Knie noch nicht genesen und einen Vertrag hatte er auch nicht. Das Trainingslager in einer losen Gruppe mit italienischen Profis wie Michele Bartoli und Mario Cipollini entpuppte sich als entscheidende Wendung auf Ullrichs Weg zurück. Doch die treibende Kraft, so Steinhauser, war stets Ullrich selbst: „Es gab Tage, als das Team Coast in der Luft hing, da wusste ich nicht, was ich überhaupt auf dem Rad soll. Da wollte ich nach einer Stunde wieder nach Hause fahren, aber Jan hat mich angetrieben.“

Derlei Vorkommnisse zeichnen freilich das Bild eines ganz anderen Jan Ullrich als in den Telekom-Jahren: „Ich habe verstanden, dass ich mich nicht mehr mit dem Minimum zufrieden geben kann. Mit meinen Möglichkeiten muss ich ehrgeiziger sein. Ich muss jeden Tag hundert Prozent für das Radfahren leben“, beschreibt Ullrich den Sinneswandel. Spätestens im nächsten Jahr, sagt er, gebe es für ihn deshalb nichts anderes mehr als den Sieg.