Reif für die Präsentationsinsel

Bedeutende Beobachtungen und Verlautbarungen am Rande eines Kongresses

Eifrig wurde nach bedruckten Aschenbechern der „Bleib-Gesund-Stiftung“ verlangt

Wie ich zum „Hauptstadtkongress Gesundheit“ ins ICC kam, ist kein Geheimnis: mit dem Motorrad. Der Weg nach ganz oben in den gut versteckten Saal der Projekt-Preis-Krönung fand ich auch im Schlaf, ich könnte nicht sagen wie. Ein halbes Croissant in der einen und eine halbe Tasse Kaffee in der anderen Backe, im Vorbeigehen nebst Schokolade am Stand der Europäischen Gesundheitskommission aufgeschnappt, huschte ich hinter dem Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes und der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth in den Raum. Dann setzte auch schon enervierender Free-Jazz ein. Ich aß zur Beruhigung das kleine Schokoladentäfelchen und schob das Einwickelpapierchen in Ermangelung einer besseren Idee ins Plastikfenster meines Namensschildchens. Es war schließlich noch früh am Tag.

Heiter begann die Verleihung, indem die Moderatorin mit echtem Bedauern verkündete, dass der Präsident der Bleib-Gesund-Stiftung die Preise aus Krankheitsgründen nicht selbst überreichen könne. Die Stiftung, als deren Schirmherrin sich Frau Süssmuth outete, verlieh den Oskar-Kuhn-Preis an Projekte auf dem Bleib-Gesund-Sektor. Schauspielkurse für Ärzte wurden prämiert, in denen sie lernen, auf Patienten besser einzugehen, damit diese nicht schon beim ersten Arztkontakt erkranken. Auch den Dolmetscher für fremdsprachige Patienten in deutschen Krankenhäusern, den ein weiteres Projekt forderte, fand ich sinnvoll. Es ist ja ein Unterschied für die Betroffenen, ob sie schlecht behandelt werden und es nicht verstehen oder sozusagen bei verbalem Bewusstsein sind. Verdienstvoll war die Erfindung der Klötzchenschrift für blinde Musikschüler. Dass Menschen mit mentalem Handicap ein herausragendes Literaturmagazin produzieren, war den Hauptpreis wert. Schon immer hatte ich vermutet, dass so etwas gar nicht anders funktionieren kann.

Als nach drei Stunden alles über die Preisträger gesagt war, erwachte ich vom Klingeln des Handys der Ex-Bundestagspräsidentin in ihrer Handtasche auf dem Podium. Sie beendete ihr Schlusswort mit der Feststellung, dass sich die Menschen ohnehin nicht zur Gesundheit erziehen ließen, sowie der Mitteilung, dass sie nun leider gehen müsse. Was sie auch tat, nicht ohne mir an der Tür, wo ich stand, herzlich die Hand zu schütteln. So aufgerüttelt und per Handschlag gesund gemacht, reihte ich mich in die Schlange der Bufettanten auf dem Korridor ein. Das Hauptstadtbufett „Funkturm“ riss alle guten Vorsätze um. Ein schwergewichtiger Kongressteilnehmer, der nur im Vorübergehen die Gelegenheit zur Selbstverköstigung ergriff, scheiterte beinahe bei der Übung, seine prospektgefüllte Aktentasche aufzuheben, während er in der anderen Hand eine mit Sauerkraut und kleinen Würstchen gefüllte Schüssel, die augenscheinlich seinen Teller vorstellen sollte, balancierte. Eifrig wurde bald nach Aschenbechern mit dem Aufdruck „Bleib-Gesund-Stiftung“ verlangt. Auch die Moderatorin rauchte mit.

Gesättigt schlich ich zur Siesta. Die „projektbezogene Präsentationsinsel“ des Literaturzeitschriftenprojekts bot sich hier zwanglos an. Die „projektbezogene Präsentationsinsel“, auf der ich dereinst mein Lebensprojekt vorstellen würde, sollte natürlich Palmen und Sandstrand aufweisen, dachte ich bei einsetzendem Gesundschlaf. Als ich jedoch nach dem Räuspern einer Kokosnuss die Augen aufschlug, war das Objektiv einer Fernsehkamera auf mich gerichtet: „Was sagen Sie und Ihre Organisation zur deutschen Gesundheitsreform?“ Ich war perplex und erklärte dümmlich, hier nur vertretungshalber zu relaxen. Das sei ja egal, man frage mich – live für die Übertragung in der Großen Halle – bloß als externen Beobachter.

Befreit legte ich denn tüchtig los und wünschte dem deutschen Gesundheitssystem, dass es europaweit stärker als vorbildlich wahrgenommen werden könnte. Durch die Zwangspraxisgebühren ließen sich eine Menge sinnvoller Projekte finanzieren, etwa Literaturzeitschriften, grenzüberschreitende Bufetts und Aschenbecher mit lustigen, gewissensstärkenden Aufdrucken. Allerdings plädierte ich stark für eine Abschaffung der Krankenkassen. Schließlich gäbe es Menschen wie mich, die noch niemals krank gewesen seien, es auch gar nicht werden wollten und ihr Geld wirklich sinnvoller einsetzen könnten, als es zwanghaft und ohne Gegenleistung an übergroße deutsche Organisationen zu überweisen. Man dankte mir mit schalkhaften Blicken, und ich kontrollierte den Sitz meines Jacketts im Spiegelglas eines Raumteilers. „European Commission“ prangte nebst Sternenkreis hinter dem Namen auf meinem Selbstpräsentations-Schildchen. TOM WOLF