Gesucht: eine Mannschaft

Durch das 2:0 über Russland hält sich Portugal die Tür offen, auch weiter bei der EM im eigenen Land mitspielen zu dürfen. Geschlossen war allerdings auch der zweite Auftritt der Gastgeber nicht

AUS LISSABON MATTI LIESKE

Es war ein trauriger Moment für Rui Costa. Mehr als zehn Jahre lang einer der prägenden Spieler einer teilweise bezaubernden portugiesischen Mannschaft, einer der Heroen des unglücklich im Halbfinale beendeten EM-Turniers 2000, lange einer der beliebtesten Fußballer des Landes, immer noch Werbelokomotive für Pepsi und andere Marken, verdienter Profi bei internationalen Spitzenklubs, zuletzt AC Mailand. Dann wird der 32-Jährige im Estádio da Luz in Lissabon im Vorrundenspiel der EM im eigenen Land gegen Russland eingewechselt – und das Publikum pfeift gellend. Dass so etwas auch einen sehr erfahrenen Spieler nicht kalt lässt, zeigen seine ersten Aktionen. Als er einen Ball in aussichtsreicher Position schlampig verliert, wächst sich der Unmut zum Entrüstungssturm aus, und der große Rui Costa schleicht wie ein armes Würstchen zurück ins Mittelfeld.

Bei seiner „Revolution“, wie die portugiesischen Medien die Umgestaltung und drastische Verjüngung des Teams nennen, hat Trainer Felipe Scolari die Fußballfans des Landes auf seiner Seite, auch wenn ihn das wenig schert. „Ich höre auf dem einen Ohr schlecht, und auf dem anderen auch“, sagte der Brasilianer über die Pfiffe bei seiner Einwechslung von Rui Costa. Außerdem mag er den Begriff Revolution überhaupt nicht. Als ein Reporter den Spieler Maniche danach fragt, greift der daneben sitzende Trainer sofort ein und redigiert erst mal die Frage. Er habe lediglich einige Veränderungen vorgenommen, von Revolution könne keine Rede sein. Maniche ist so eingeschüchtert, dass er die Frage lieber gar nicht beantwortet und stattdessen vom schweren Spiel gegen Spanien erzählt, das den Portugiesen nach dem 2:0-Sieg über Russland nun am Sonntag bevorsteht.

Das System habe er nicht geändert, präzisiert Scolari seine Sicht der Dinge, nur ein paar Spieler ausgetauscht. Diese Wechsel haben es jedoch in sich. Das Gerüst des Teams bilden jetzt die Champions-League-Gewinner vom FC Porto, die Scolari im Vorfeld der EM noch gern gemieden hatte. Dafür flogen nach dem Auftaktschock gegen Griechenland mit Rui Costa und Couto zwei der drei verbliebenen Veteranen aus der Anfangsformation, übrig blieb allein Luis Figo, der wacker um seine führende Position im Team kämpft. Fast spannender als die sehr wohl spannende Partie gegen die Russen war die Interaktion zwischen Deco, dem neuen Bestimmer im Mittelfeld, den Porto-Akteuren und dem mit 31 Jahren noch gar nicht so alten Kapitän. Schließlich hatte Figo heftig gegen die Berufung des gebürtigen Brasilianers Deco in den Kader polemisiert, weil der kein echter Portugiese sei. Wenn er wolle, stelle er einen Chinesen auf, hatte Scolari entgegnet. Bei jedem Freistoß, bei jedem Eckball, sogar beim Einwurf gibt es nun kleine Diskussionen zwischen den beiden; wenn Deco zu viele Bälle bekommt und er zu wenige, grantelt Figo wie ein älterer Herr, der seine gewohnte Parkbank besetzt vorfindet.

Deco ist fast schon der neue Chef, aber bemüht, Figo einzubeziehen. Auch die anderen Porto-Spieler versuchen, den Star von Real Madrid bei Laune zu halten. Was Nuno Valente allerdings nicht hindert, Figo mit einer ungeduldigen Handbewegung nach vorne zu scheuchen, als der an der Mittellinie einen Freistoß ausführen will. Früher hätte es solche Majestätsbeleidigung nicht gegeben. In der 29. Minute dann ein seltenes Abklatschen zwischen Figo und Deco, ansonsten sind aufmunternde Gesten rar im portugiesischen Team, es überwiegen hektische Debatten über Positionierung und Genörgel über Fehlpässe. „Ich habe keine Auswahl, sondern eine Mannschaft“, beharrt Scolari immer wieder, in Wirklichkeit ist er davon weit entfernt. Die Mannschaft versucht vielmehr gerade auf dem Platz, sich zu finden und neue Hierarchien zu bilden – wenn Scolari Glück hat, klappt es noch bei diesem Turnier.

Auch wenn es der Trainer nicht zugeben will, hat sich das System sehr wohl geändert. Statt des gepflegten Kurzpassspiels der Figo-Generation spielen die Porto-Leute den Porto-Fußball des von Scolari herzlich verabscheuten neuen Chelsea-Coaches José Mourinho. Mit Volldampf in der Abwehr, mit Volldampf nach vorn, meist über den großartigen Deco, der am Rande der Partie verriet, dass er von Porto wohl zu Chelsea wechseln werde – und also nicht zu Bayern München. In der ersten Viertelstunde funktioniert die Sache prächtig, und Deco bereitet mit einem gestochen scharfen Anspiel auf Maniche das 1:0 vor. Dann wird, wohl auch auf Scolaris Kommando, Figo auf seinem linken Flügel mehr einbezogen – und die Gefährlichkeit der Aktionen lässt prompt nach. Es folgt bis weit in die zweite Halbzeit hinein ein Zitterspiel, denn die Portugiesen müssen ja unbedingt gewinnen, um ihre Chancen bei dieser EM zu wahren.

Dass Scolari eigentlich kein großer Freund des hektischen Porto-Fußballs ist, zeigt seine Begründung für die Einwechslung von Rui Costa: „Er sollte das Spiel langsamer machen.“ Genau das also, was ihm das Publikum ankreidet. Aber sinnvoll. Schon zuvor hatte der Trainer selbst bei recht gelungenen Aktionen Tobsuchtsanfälle bekommen, weil sie ihm zu ungeduldig vorgetragen wurden. Viele schnell abgeschlossene Angriffe bedeuten ja häufigen Ballbesitz für den Gegner, und den wussten die schnellen Russen, obwohl nach dem extrem harten Platzverweis gegen Torhüter Owtschinnikow in Unterzahl, recht gut zu nutzen. Mit Rui Costa kehrte tatsächlich eine gewisse Ruhe ein, obwohl der 32-Jährige und Deco sich oft gegenseitig im Weg standen.

Dann leuchtete plötzlich die Nummer 7 auf, auch das war früher undenkbar. Figo musste raus, ging jedoch nicht, ohne eine kleine Demonstration zu veranstalten. Fast feierlich überreichte er die Kapitänsbinde an seinen alten Weggefährten Rui Costa. Dem wurde schließlich doch noch der Jubel seiner Landsleute zuteil, als er kurz vor Schluss das 2:0 erzielte. Nach genialer Flanke des 19-jährigen Cristiano Ronaldo übrigens, der für Figo gekommen war. In diesem Fall hatte die Synthese von Alt und Jung im portugiesischen Team prächtig geklappt.