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Heute wird der Philosoph Jürgen Habermas 75 Jahre alt. Das Verhältnis der alternativen Linkenzum Verfechter des herrschaftsfreien Diskurses und des Einsatzes der kritischen Vernunft war immer ambivalent – obwohl und weil seine Thesen mittlerweile mehrheitsfähig geworden sind

VON DIRK KNIPPHALS

Die dpa zitiert Joschka Fischers Wort vom „Staatsphilosophen“, ADN bemüht den Begriff des „Staatsdenkers“. War ja klar, dass die Vorberichte der Nachrichtenagenturen zum heutigen Geburtstag des Philosophen Jürgen Habermas ziemlich staatstragend ausfallen würden. Und man will sich auch gar nicht wirklich darüber beschweren, etwas Wahres ist schließlich dran. Jürgen Habermas, das ist nicht nur der Philosoph, in dessen Aneignung oder Ablehnung man einen beträchtlichen Teil seines Studiums investiert hat, wenn man denn in den vergangenen drei Jahrzehnten Philosophie studiert hat (und dabei der Gegenwart nicht von vornherein durch Altgriechischstudien entfliehen wollte). Habermas, das ist zudem bekanntlich auch der Philosoph mit den höchsten gesellschaftlichen Einschaltquoten.

Nur: Das bestimmende Gefühl an diesem 75. Geburtstag ist doch, dass die große, die umfassende Würdigung im Moment noch gar nicht fällig ist. So historisch kann man diesen Philosophen noch gar nicht sehen. Er ist ja weiterhin im Ring, still alive and kicking, präsent in den deutschen Debatten, selbst von den USA aus, wo er sich seit seiner Emeritierung in Frankfurt gern aufhält. Das zeigt nicht allein sein gerade erschienenes Buch über den „Gespaltenen Westen“ (siehe taz vom 17. 6. 2004). Sondern auch die Tatsache, dass er einen immer noch verblüffen und, ja doch, zum heftigen Widerspruch reizen kann – etwa zuletzt mit seiner Hinwendung zu religiösen Sinnressourcen (vgl. taz vom 9. 11. 2001 und 20. 3. 2004).

Zu registrieren ist an diesem 18. Juni 2004 also, dass Bekenntnisse zum herrschaftsfreien Diskurs und zum kritischen Einsatz der Vernunft inzwischen mehrheitsfähig geworden sind – das ist, an diesem Punkt bloß keine Missverständnisse, unzweifelhaft eine Errungenschaft in unserer Gesellschaft. Darüber hinaus ist es vielleicht aber ganz gut, zu diesem Termin einmal darüber nachzudenken, wie es zu dieser Situation kommen konnte. Wer sich zu diesem Zweck die zentralen Texte noch einmal durchliest, in denen die taz im Verlauf ihrer 25-jährigen Geschichte diesen Philosophen gewürdigt hat, wird feststellen, dass der Weg dahin keineswegs geradlinig verlief – das Verhältnis dieser Zeitung (die man in diesem Fall einmal pars pro toto für die neue, alternative Linke nehmen darf) zu Habermas war immer ambivalent.

Es gibt zwei Termine, von denen man aus das anfängliche Verhältnis der taz zu Habermas sehr schön rekonstruieren kann, den 3. und den 21. Oktober 1980. An diesen beiden Tagen erscheint das erste, in taz-Kreisen immer noch legendäre Interview dieser Zeitung mit dem damals am Starnberger See im Max-Planck-Institut arbeitenden Philosophen. Der sitzt an den letzten Zügen seiner ein Jahr später erscheinenden „Theorie des kommunikativen Handelns“, es ist die Zeit der Bundestagswahl gegen Franz Josef Strauß, die taz ist noch im Säuglingsalter, und die Fahrt nach Starnberg muss Züge einer Pilgerfahrt gehabt haben. „Vier Mann hoch – nur Männer – kam die taz zu Habermas“, vermerkt der Vorspann, etwas später fährt er fort: „Die ersten Sätze sind schüchtern – auf beiden Seiten. Wir haben Bammel vor der Autorität; Habermas weiß nicht, auf welche Vögel er sich da eingelassen hat. Dann wird viel gelacht.“ Vorsichtiges Abtasten also, dann das Glück des Gelingens.

Bammel hin, Autorität her, die tazler der ersten Stunde wollten sich den Segen von Habermas – des Nachfolgers Adornos! – abholen. Nichts lag damals näher. „Die taz engagiert sich für eine kritische Öffentlichkeit“, dieser Satz steht bis heute im Statut dieser Zeitung; eine Kontaktaufnahme mit dem Philosophen, der wie kein zweiter für eine Theorie der kritischen Öffentlichkeit stand (und bis heute steht) lag auf der Hand. Aber das Gespräch enthält eben auch entscheidende Differenzen. Erstens gibt Habermas die zögerliche Frage, was denn heute links sei, umstandslos an die Fragesteller zurück: „Wenn ich mich an dem Spiel ,Was ist links‘ beteiligen wollte, wäre ich viel verzweifelter, als ich es bin. Das weiß doch jeder, was links ist. Sagen Sie mir doch mal, warum Sie das nicht mehr wissen.“ Bis heute kann es vorkommen, dass diese Sätze sich postlinks gebenden tazlern von Langzeitabonnenten vorgehalten werden.

Zweitens vermerkt das Gespräch Unterschiede in den Stilfragen; Habermas’ „bürgerliche“ Lebensführung (Anzug, verheiratet, Professorenamt) ist Thema. Drittens wird das Wallfahrthafte des Interviews von den Kollegen in Berlin durchaus bemerkt und mit einer Zeichnung karikiert. Und viertens und vor allem gibt es auch deutliche theoretische Differenzen: über Bataille und Foucault, die französischen Poststrukturalisten, kann man sich nicht einig werden.

Auf diese Differenz spielt auch der Titel des Gesprächs ironisch an. „Vier Jungkonservative beim Projektleiter der Moderne“ – in seiner kurz zuvor, im September 1980 gehaltenen, berühmten Rede „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ hatte Habermas die Anhänger Batailles, Foucaults und Derridas kurzerhand unter die „Jungkonservativen“ eingeordnet. Im Interview selbst wollte er dem Poststrukturalismus gleich ganz emanzipatorisches Potenzial absprechen: „Bei Foucault vermisse ich eigentlich das wie auch immer gebrochene Festhalten an den Intentionen der Aufklärung.“ Gegenaufklärung! Was für ein Bannspruch damals! Nur dass die tazler tapfer dagegenhielten.

Diese Ambivalenz – kritische Öffentlichkeit schon klar, aber doch Nichtakzeptanz von Habermas’ Versuchen, konkurrierende Theorieansätze auszugrenzen – ist dann taz-Tradition geworden und im Grunde bis heute geblieben; irgendwann kam noch Niklas Luhmanns Systemtheorie als weiterer konkurrierender Ansatz hinzu. Dass diese Ambivalenz theoriestrategisch nie bis ins Letzte ausgetragen wurde, hatte einen simplen Grund: den Historikerstreit in den Achtzigerjahren.

Das lässt sich in aller Deutlichkeit der Würdigung ablesen, die der damalige taz-Literaturredakteur Jörg Lau dem Philosophen zum 65. Geburtstag widmet. Der nicht eben zwingende, unrunde Anlass zeigt schon an: Hier musste etwas klargemacht werden. Und zwar dies: Mit seiner Gegnerschaft zu Foucault war Habermas zwar nicht durchgekommen; wer damals aus den Philosophieseminaren kam, ließ sich eher vom Franzosen als vom Frankfurter faszinieren. Aber Jörg Lau nutzt diesen leisen Triumph eben nicht, um Habermas beiseite zu wischen. Wenn er sich nur die richtigen Gegner aussuchte, wie im Historikerstreit den Geschichtsrevisionismus Ernst Noltes, hielt man auch zu ihm. In Bezug auf die damals gerade diskutierten neurechten Diskursansätze – der „Anschwellende Bocksgesang“ war noch im Ohr, formulierte Jörg Lau: „… gut zu wissen, dass Jürgen Habermas noch im Ring ist, um den Fehdehandschuh aufzunehmen.“

Im Ansatz ist in dieser Würdigung die Verschiebung enthalten, die bis hin zum „Staatsphilosophen“ Habermas führt: Im Grunde lässt man Theorie Theorie sein und würdigt den erreichten Stand der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, als deren Symbol man Habermas einsetzen kann.

Mit dem Historikerstreit war ein Stand erreicht, bei dem man sich auch in der taz im Einklang mit der Mehrheit und dennoch einverstanden erklären kann. Von nun an war einfach klar, dass sich diese Gesellschaft von diesem Philosophen nie wieder der „Schadensabwicklung“ des Holocausts bezichtigen lassen wollte. Die Kritische Theorie war zumindest so weit praktisch geworden, dass die „Jungs von der Neuen Rechten“ (Lau) keine Chance hatten. Und das damals noch trotz Kohl!

Es ist dieser gute, alte linkshegelianische Hintergrund von der Aufhebung der Theorie in die Praxis, die seither die Würdigungen von Jürgen Habermas bestimmt – zumal seit dem rot-grünen Wahlsieg im Jahr 1998. Die Nachrichtenagenturen tickern derzeit auch den Satz von Norbert Bolz, nach dem Rot-Grün die Praxis zur Theorie von Habermas sei: „Der Weg von Adorno zu Habermas ist der Weg von den Studentenprotesten auf die Regierungsbank.“ Das ist durchaus dezent gehässig gemeint, schließlich befindet sich das rot-grüne Projekt gerade nicht im strahlendsten Zustand. Aber zumindest erhascht der Satz etwas vom Selbstverständnis rot-grüner Politiker und auch von der Hegemonie in unserer Gesellschaft; nicht selten immerhin heutzutage, dass schon Kleinkinder den herrschaftsfreien Diskurs über normative Hintergründe elterlicher Entscheidungen einklagen und beim Taschengeld etwa die Gerechtigkeitsfrage stellen.

Den Einwand, dass Verwirklichungen oft mit einer Reduzierung des ursprünglich Gewollten einhergeht, kann man sich schenken. Wie soll das denn auch sonst sein? Gewichtiger ist schon der Hinweis darauf, dass es in der taz – bei aller Sympathie für praktische herrschaftsfreie Diskurse – in der Theorie bei Ambivalenzen geblieben ist. In seinem Artikel zum 70. Habermas-Geburtstag zitiert Reinhard Kahl den Philosophen Ludger Heidbrink mit skeptischen Worten: „Das Theoriegebäude des Sozialphilosophen gleicht einer Kathedrale. Ehrfürchtig tritt man ein, beeindruckt vom gewaltigen Bauplan in seinen endlosen Verästelungen, und bleibt doch seltsam unberührt von der Pracht.“ Und Christian Semler macht aus Anlass des Friedenspreises für Habermas 2001 auch auf Defizite aufmerksam: „Auf den Zusammenbruch des realsozialistischen Systems und auf die deutsche Vereinigung hat er uns allerdings wenig vorbereitet.“

Schüchtern klingt das nicht mehr. Und bei aller Freude über den erreichten und von Habermas vorangetriebenen Stand der kritischen Öffentlichkeit bleibt anzumerken, dass sich doch auch die theoretischen Konkurrenzangebote ganz prächtig entwickelt haben.