■ Das Vertrauen in die Politik ist weg. Was tun?
: Bessere Politik machen

betr.: „Verhöhnung der Demokratie“, Debattenbeitrag zu den Europawahlen von Harald Schumann, taz vom 11. 6. 04, „Unfassbar egal“, Kommentar von Bettina Gaus zur Wahlbeteiligung, taz vom 14.6. 04

Die Argumentation Schumanns ist nur destruktiv. Weil der Wähler zu wenig Einfluss hat, soll er gar nicht wählen?

Die meisten Menschen fühlen sich schon durch ihre bisherigen politischen Informationsaufnahmepflichten überfordert – und das soll durch ein Mehr vom Gleichen korrigiert werden, durch Veröffentlichung der Debatten im EU-Rat? Politik ist langweilig, es gibt kreativere Freizeitaktivitäten. Macht man Politik aber interessant, indem man sie als ureigenstes Interesse des kleinen Mannes verkauft, so weckt man nur seine Bosheit, macht Ressentiments lebendig wie Deutsche gegen Franzosen, Bauern gegen Städter, Religiöse gegen Nichtreligiöse, kleine Staaten gegen große.

Nein, Europa muss für alle eine Sache des Herzens und der Ästhetik werden und für die Politiker eine Sache des Fachwissens. Man kann mehr Expertenwissen in den europäischen Institutionen wünschen, aber nicht mehr Stammtische um die Interessenvertretung.

MARIANNE BAYER, Gießen

In meinen Augen gibt es zwei Verlierer dieser Wahlen, und die heißen: Politik und parlamentarische Demokratie. Die Politik, weil sie die Wähler nicht mehr aus dem Fernsehsessel an die Urne lockt, sondern in die Resignation, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit treibt: „Es sind doch alle gleich“, „Ich kann ja doch nichts ändern“, „Die machen, doch was sie wollen“. Die parlamentarische Demokratie, weil 55 Prozent der Wahlberechtigten sich entschieden haben, das Spielchen nicht mehr mitzumachen, alle vier bis fünf Jahre ein Kreuzchen hinter eine Partei zu setzen und den Rest der Zeit abzuwarten, was geschieht. Dies zeigt, dass die Politik an den Bürgern vorbeigeht, ja sich gegen sie richtet. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, unser demokratisches System so umzubauen, dass den Bürgern mehr Beteiligung ermöglicht wird. INSA KLINBERG, Balingen

Es ist nicht mehr damit getan, den Nichtwählern einen Mangel an demokratischer Gesinnung vorzuwerfen. Eher schon im Gegenteil, die Menschen entwickeln sich, vom „Stimmvieh“ zum aufgeklärten, kritischen Bürger. Die stetig wachsende Zahl in der „NWP“ erwartet für ihr Kreuzchen erheblich mehr, als geboten wird … oder sie verweigert das Kreuzchen. Was tun? Ganz einfach, bessere Politik machen und die Menschen ernst(er) nehmen. KLAUS ZINNER, Bochum

Zum einen möchte ich meine Stimme nicht hergeben, damit ich mit dafür verantwortlich bin, dass sich irgendein Politiker feist die Taschen füllen kann, obwohl er (oder sie) meine Interessen, wenn überhaupt, vielleicht nur am Rande vertritt. (Die Regulierung zum Beispiel der erlaubten Größen von Obst und Gemüse kann nicht in meinem Interesse sein.) Zum anderen habe ich bei den deutschen Parteien nicht erkennen können, was sie für Europa leisten wollen. Der Wahlkampf bezog sich ausschließlich auf Themen der Bundesrepublik. Damit haben die „ernst zu nehmenden“ Parteien ihre Europa-Unfähigkeit bewiesen. Und die anderen Parteien braucht nun wirklich kein Mensch. Fazit: Wozu sollte ich zur Europawahl gehen, solange auf dem Stimmzettel nicht ein Feld für Enthaltungen ist?

BARBARA KIRSCH, Lüneburg

Die Politik scheitert nicht nur vor der Wahl, sondern auch während und danach. Die politischen Skandale, die wir in der letzten Zeit erlebten, spielen eine sehr große Rolle für eine Wahlbeteiligung. Das Vertrauen in die Politik ist bei den Bürgern ganz einfach weg. Viele unter uns fühlen sich von der Politik verlassen. […]

THIERRY VANDRIES, Köln

betr.: „Die Neue Mitte färbt sich grün. Den Grünen fällt die tragende Rolle in der Koalition zu“, von Dieter Rulff, taz vom 15. 6. 04

Für Hype gleich welcher Art gibt schon eine erste Analyse der Ergebnisse der Europawahl nichts her. Die so genannten Wahlsieger sollten ihre Prozentpunkte einmal in Bezug zur Gesamtheit des wahlberechtigten (und nicht des Anteils des zur Wahl gegangenen) Staatsvolkes stellen.

Angesichts einer Wahlbeteiligung von unter 40 Prozent in Bayern verschwindet dann selbst eine schier übermächtige CSU tief im 20-Prozent-Turm, und erst in absoluten Zahlen werden ihre enormen Verluste deutlich. Ehrlicher wäre es, Mandate (und auch die Wahlkampfkostenerstattung!) im Verhältnis der abgegebenen Stimmen zu den Wahlberechtigten zu verteilen, das würde zudem Wahl- wie Kandidatenvolk disziplinieren!

Dass Grüne von sozialdemokratischen ProtestwählerInnen profitieren, beweist im Übrigen nur den erfolgreichen Abschluss der Sozialdemokratisierung dieser Partei. Es zeigt aber auch, dass die WählerInnen genau wissen, dass der grüne Teil der Regierungskoalition in den zentralen Politikfeldern nichts zu melden hat, ergo für die Malaise nicht verantwortlich gemacht werden kann. Während die SPD für spät und schlecht gemachte Reformen abgestraft wird, tummeln sich die Grünen derweil unbehelligt auf den ihnen überlassenen Spielwiesen. […] TARIK TELL, Purto Cruz, Teneriffa

Wie sieht nun die grüne Mitte im politischen Alltag aus? Bin vor der Europawahl in eine kleine Odenwaldgemeinde zu einer kirchlichen Diskussionsveranstaltung gepilgert. Thema: Genmanipulation. Auf dem Podium fünf „Referenten“, nur ein Politiker, der hessische Geschäftsführer von den Grünen. Jung, smart, gekleidet: Designer-Anzug mit Schlips und Kragen. Sein Statement bestand hauptsächlich darin, die Grünen hätten doch schon immer und würden auch in Zukunft, also sollte man bei der Europawahl daran denken, das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Er kam als Letzter und ging eiligen Schrittes als Erster. Hätte ich ihn nicht kennen gelernt, hätte ich vermutlich wieder mal das kleinere Übel gewählt, aber mir war nur noch übel. JÜRGEN PAUL, Groß-Umstand

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