Druck auf den „Dummkopf“

Fast alle Prognosen bei Hongkongs Übergabe an China sind auf den Kopf gestellt

aus Peking GEORG BLUME

Als wangba, als Schildkröte, veräppeln die Einwohner gern ihren Regierungschef Tung Chee Hwa. Eine Schildkrötenfigur mit seinem Kopf zogen sie bei Demonstrationen mit. Die Schildkröte ist ein Synonym für „Dummkopf“. Und der „Dummkopf“ Tung muss sich mit der schwierigsten politischen Situation in Hongkong seit seinem Amtsantritt 1997 auseinander setzen.

Die letzten Schritte zur offen ausgebrochenen Regierungskrise waren zwei Rücktritte am Mittwoch. Antony Leung, 51-jähriger Finanzstaatssekretär mit Kompetenz und Charme, der auch noch für Glamour im drögen Regierungsgeschäft gesorgt hatte, als er die über 25 Jahre jüngere chinesische mehrfache Turmspringolympiasiegerin Fu Mingxia heiratete, nahm seinen Abschied – und das nur wegen eines Toyota Lexus.

Leung hatte im Januar den Fehler begangen, sich die Luxuslimousine nur wenige Wochen vor einer von ihm verantworteten Steuererhöhung anzueignen und dabei umgerechnet annährend 22.000 Euro zu sparen. Korrekt, wie er immer wirkte, bot Leung wegen der Affäre schon im März seinen Rücktritt an. Doch Tung lehnte ab. Worauf Leung reumütig 44.000 Euro an karitative Organisationen überwies. Dass er jetzt trotzdem gehen musste zeigt, wie tief die politische Krise reicht, die in Hongkong seit der Großdemonstration von einer halben Million Menschen am 1. Juli offenbar geworden ist.

Neben Leung trat auch die unpopuläre Sekretärin für Sicherheit, Regina Ip, zurück, an deren Vorlage für ein neues Sicherheitsgesetz in Hongkong sich die Proteste entzündet hatten. Die schiere Größe der Demonstration sorgte dafür, dass seither das politische Schicksal des von Peking nach der Übernahme Hongkongs von Großbritannien im Jahr 1997 eingesetzten Tung zur Debatte steht. Die Demonstranten forderten seinen Rücktritt mehr als alles andere: „Wir sind müde, wir sind wütend, tritt zurück!“, stand auf einem der meistgetragenen Sticker der Kundgebung vom 1. Juli. Daraufhin folgten an den ersten beiden Juli-Wochenenden weitere Massenaufmärsche. Wobei die Organisatoren stets beteuerten, dass sich ihre Wünsche nur an die eigene Stadtregierung und nicht etwa an die Machthaber in Peking richteten – eine taktische Verharmlosung, um nicht aus dem offiziellen politischen Rahmen „ein Land, zwei Systeme“ zu fallen. Peking aber weiß sich längst angesprochen. Zwar hat sich bislang noch kein ranghoher Kommunist zu der Lage in Hongkong geäußert. Erst gestern berichteten die chinesischen Staatsmedien erstmals von der Krise, indem sie von den Rücktritten und einem „großen Schock für die politische Landschaft Hongkongs“ sprachen. Doch will die chinesische Parteispitze schon am Samstag ihr Urteil fällen: Für diesen Tag hat sie Tung zur Aussprache in die Hauptstadt geordert. Offenbar wollen Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao ihre Handlungsfähigkeit schnell unter Beweis stellen. „Sie wollen wissen, ob Tung noch das Selbstvertrauen zum Regieren besitzt“, erklärt ein skeptischer Ma Lik, Generalsekretär der größten prokommunistischen Partei Hongkongs, der „Demokratischen Allianz“. Zuvor hatten sich Gesandte der Pekinger KP bereits mit Mitgliedern der demokratschen Opposition getroffen. Die Parteispitze fühlte sich von der Regierung in Hongkong offenbar nicht mehr gut genug informiert.

So ist Peking, das die ehemalige Kronkolonie seit der Rückgabe von Großbritannien im Jahr 1997 politisch so gut im Griff zu haben schien, plötzlich in die Defensive geraten. Allein Leungs Rücktritt – ohne Zustimmung aus der Hauptstadt undenkbar – stellt mehr als ein Bauernopfer dar: Seine Ehe mit Fu, einer der wenigen ungetrübten Heldenfiguren der Volksrepublik, symbolisierte für die offizielle Propaganda das Zusammenwachsen zwischen „Mutterland“ und ehemaliger Kolonie. Stattdessen wird nun deutlich, dass die Gräben zwischen China und Hongkong eher breiter geworden sind. Fast alle Prophezeiungen von 1997 werden damit auf den Kopf gestellt. Damals sah man Hongkong als Goldgrube für ein wirtschaftlich bedrängtes Pekinger Regime. Heute aber müssen die Kommunisten in der Hauptstadt alles tun, um Hongkong Wege aus der seit der Asienkrise von 1997/98 nicht abreißenden Wirtschaftsmalaise zu zeigen. Gerade unterzeichnete Premier Wen mit Tung eine Vereinbarung, die Zölle für Importe aus Hongkong in die Volksrepublik drastisch senkt und es Hongkonger Dienstleitungsunternehmen erleichtert, ihre Angebote auf ganz China auszudehnen.

Im Zuge solcher Stützmaßnahmen aber schien auch ein immer größerer politischer Einfluss Pekings in Hongkong gewährleistet zu sein. Allenthalben regierte in den letzen Jahren Unmut und Ärger in der Hongkonger Demokratie- und Dissidentenszene. Man schimpfte über Zeitungen, die sich immer mehr der Selbstzensur preisgaben, ärgerte sich, wenn Regina Ip wieder einmal einen Pekinger Regierungskritiker an der Grenze auflaufen ließ, um ihn noch vor einer Menschenrechtskonferenz nach Hause zu schicken. Zum Eindruck von der scheinbaren Hilflosigkeit der Opposition trug in den letzten Jahren der Rücktritt ihrer Galionsfigur, des Anwalts Martin Lee, vom Vorsitz der Demokratischen Partei bei. Oder auch die Klagen der Abgeordneten Emily Lau, einer mit der Demokratiebewegung bekannt gewordenen Journalistin, die in dem von Pekingtreuen kontrollierten Legislativrat der Stadt scheinbar jeden politischen Einfluss verlor. Doch siehe da: Schon seit Tagen ist kaum jemand so gefragt wie die noch vor kurzem ihre politische Einsamkeit bedauernde Lau. Sie hält auf jeder Demo große Reden und träumt auch schon wieder: „Wir können die Führer in Peking davon überzeugen, Hongkong die Demokratie zu geben“.

Damit greift die Abgeordnete den Ereignissen weit voraus. Zwar schreibt das von Chinesen und Briten verfasste Grundgesetz für Hongkong vor, dass allgemeine Wahlen Ziel der Stadtentwicklung seien. Doch im Grunde will Peking davon nichts hören. Peking will vor allem Ruhe in Hongkong, keinen Ärger. Aber wie ist das möglich? In der Stadt gedeihen hunderte von Nichtregierungsorganisationen, von amnesty bis zu Katholikenkreisen, von Gewerkschaftsgruppen bis zu Greenpeace, die alle an Netzwerken mit der Volksrepublik stricken – außerhalb der Partei. Einem Bündnis der vielen kleinen NGOs jedenfalls entspringt der „Civil Human Rights Fund“, der in den letzten Wochen alle großen Kundgebungen koordinierte und dem Emily Lau als Sprecherin dient. Wie will Peking diese Opposition bekämpfen?

Vielleicht war dazu das umstrittene Sicherheitsgesetz gedacht. Doch das hat Tung bereits zurückgezogen. Er wird eine Wiedervorlage so schnell kaum wieder wagen. Für die Hongkonger Opposition ist das bereits ein großer Erfolg – auch wenn Tung im Amt bleibt. Denn vermutlich wird Peking nichts anderes übrig bleiben, als Tung zu stützen. Alles andere sähe nach einem direkten politischen Eingriff aus, den das Grundgesetz verbietet. Ein geschwächter Regierungschef aber kann der Hongkonger Demokratiebewegung durchaus nützlich sein: Zumindest unter Tung werden die Rufe nach freien Wahlen nicht verklingen.