Das ganze Glück des Singens

Größer als alles Unglück ist die Hingabe an die Kunst: Anja Silja singt die Gräfin in Tschaikowskys „Pique Dame“ in der Komischen Oper. Dort ist die Musik, der Thilo Reinhardts Regie genügend Freiheit lässt, von allem Gefühlskitsch befreit

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Der Regisseur Thilo Reinhardt mag Männer am Rande des Irrsinns. Nach Hoffmann, dem narzisstischen Egomanen, der in Offenbachs einziger ernster Oper „Hoffmanns Erzählungen“ immer nur seinen Fantasiefrauen nachrennt, hat er sich nun dem (ebenfalls sehr deutschen) Ingenieur Hermann in Tschaikowskys „Pique Dame“ zugewandt. Wieder steht ihm der Bühnenbildner Paul Zoller zur Seite, und die Handschrift der beiden überzeugt auch jetzt. Der geschlossene Innenraum einer einheitlichen Szene konzentriert die Handlung auf die Psychologie der zentralen Figuren und lässt zugleich der Musik genügend Freiheit, ihr Innenleben, auch die Gedanken, nicht nur die Gefühle zur Sprache zu bringen, in einer universaleren Art und Weise, als es der gesprochene Text könnte.

„Hoffmanns Erzählungen“ spielten im Foyer einer ziemlich heruntergekommenen Oper, für die „Pique Dame“ führen uns Reinhardt und Zoller in das Foyer eines wahrscheinlich teuren, aber nicht sehr feinen Hotels im postkommunistischen Moskau, das eine Spielbank und offenbar auch Räume für eine puschkinsche Gräfin samt Enkelin enthält. Alt- und neureiche Schnösel lümmeln hier herum, immer mal wieder tanzen leichtbekleidete Mädchen herein. Hermann jedoch leidet. Woran, weiß er selbst nicht so genau. Er habe sich verliebt, singt er, aber für das Glück fehlt ihm das Geld. Er wird beides bekommen, sowohl die schöne Enkelin der Gräfin als auch das für diese Liaison nötige Geld, und beides verspielen … Ein Mann am Rande des Irrsinns eben, wie ihn Reinhardt liebt.

Das ist sehr gut, zum Erlebnis wird diese Aufführung aber dennoch nicht allein durch diese sorgfältige, kluge Art des erzählenden Theaters, sondern ebenso durch den russischen Dirigenten Alexander Wedernikow, der Tschaikowskys Werk von allem Gefühlskitsch befreit. Ganz rein und klar und unglaublich sicher in der Wahl unterschiedlichster Stilmittel hat Tschaikowsky zugleich die seelische Leere dieser reichen Gesellschaft wie auch die psychotische Verwirrung seines Helden geschildert. Orchester und Ensemble lassen sich mittragen in diesen frischen, unpathetischen Klang. Nur die Irin Orla Boylan stört als Enkelin Lisa das feingesponnene Gewebe durch ein völlig unsensibles, fast immer lautes Singen mit viel zu viel Vibrato.

Das ist schade, aber Höhepunkt des Abends ist ohnehin der Auftritt von Anja Silja als Gräfin. Die in aller Welt gefeierte Sopranistin ist vor nunmehr 69 Jahren in Berlin geboren worden und erteilt noch immer eine Lektion in Gesangskunst. Die Stimme allein ist es nicht, denn die hat ein Mensch dieses Alters nicht mehr. Dennoch klingt das französische Chanson, das sich Tschaikowsky für diese Figur einfallen ließ, mit einer Kraft und Präsenz, die das Alter – nein, nicht vergessen lässt. Es ist wohl hörbar, wird aber zum Inbild eines gereiften, reichen Lebens.

Das ganze Glück des Singens auf der großen Bühne klingt mit und erlaubt dieser Frau ein Rollenspiel, das eigentlich eine Zumutung ist. Denn Reinhardt verlangt, dass die alte Gräfin in erotisch aufgeladenen Erinnerungen ihren Paillettenmantel auszieht. Sie muss sich im Unterhemd von Hermann begrabschen lassen, der ihr das Geheimnis der drei immer gewinnenden Spielkarten entreißen will. Vor Schreck über diese Zudringlichkeit stirbt die Gräfin, die im Textbuch eine von allen verlachte Greisin ist. Hier ist sie auch das, zugleich aber auch sehr viel mehr.

Sie ist Anja Silja, der Weltstar, der sich noch einmal ganz dem Theater hingibt, keine Rücksicht nimmt, nicht auf Alter, nicht auf den Ruhm, es geht um die Kunst und um sonst gar nichts. So zeigt sie ohne Scheu ihren gealterten Körper her, im Bühnentod fällt ihr auch noch die Perücke vom Kopf. Nun liegt sie da, dahingestreckt in einem der grässlichen Sessel, mit denen Zöller sein Moskauer Foyer möbliert hat, mit nackten Beinen, im Hemd und dem entstellendem Haarnetz auf dem Kopf. Aber nichts ist peinlich oder hässlich, es ist großartig und von tief berührender menschlicher Würde.

Gewiss ist dieser Auftritt ein Glücksfall, den Reinhardt nicht planen konnte. Für die Qualität seiner Regie spricht jedoch, dass sie ihm ganz selbstverständlich Platz einräumt. Auch Anja Silja ist nur ein Mitglied des Ensembles. Nach der Pause geht es ohne sie weiter – mit Ausnahme eines kurzen Erscheinens als Gespenst, das dem halbwahnsinnigen Ingenieur doch noch das Geheimnis der Karten verrät – und sichtlich glücklich reiht sie sich zum Schlussapplaus ein, bescheiden noch vor dem Hauptpaar, das denn auch wie gewöhnlich etwas mehr Applaus bekommt. Im Fall des Tenors Kor-Jan Dusseljee in der Rolle des Hermann ist der auch wohlverdient. Eine schöne Stimme und ein kluger Mann, der das Theaterspiel versteht, das Reinhardt nun mal von seinen Sängern über das in der Oper übliche Maß hinaus verlangt.

Und was Anja Silja angeht: Am 8. März gibt sie einen Liederabend an der Komischen Oper: Ein Leben für die Kunst …

Nächste Aufführungen: 30. Januar und 8., 11., 14., 27. Februar