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Archiv-Artikel

Auch die Fische sind nicht stumm

Das Tierstimmen-Archiv an der Humboldt-Uni ist das weltweit drittgrößte. Es beherbergt die Laute von rund 4.000 Tierarten. Archivgründer Tembrock zog 1965 sogar an seinem Geburtstag in die Natur, um die Geräusche des Buchfinks einzufangen

Die Ratlosigkeit in der Welt ist ihm eher eine Herausforderung denn trostlos

von KIRSTEN KÜPPERS

Ein raues Japsen. Ein vorsichtiges Fauchen. Ein helles Fiepen. Die ganze Tierwelt ist hier eingesperrt – in viele Tonbänder in grauen Regalen. Und wenn man sie dann rauszieht, die Bänder mit dem vielen Geräusch und sie einlegt in das Gerät, drehen sich die Spulen, dazu rauscht und knistert es – die Qualität des Materials ist nicht mehr die Beste –, und wenn es dann also aus den Lautsprechern bellt und japst und fiept, dann kann man den Raum akustisch wirklich ganz schnell voll kriegen mit einer Meute von Affen und Füchsen und Katzen und Mäusen und allem möglichen Getier.

Das Berliner Tierstimmenarchiv gehört zu den größten der Welt. In Amerika haben sie eine Sammlung, die ist noch größer, und eine in Großbritannien, aber danach kommt gleich das Berliner Archiv mit seinen über 5.000 Tonbändern. 100.000 Aufnahmen finden sich hier, die zusammengetragenen Laute von mehr als 4.000 verschiedenen Tierarten. Das Knurren, Summen, Pfeifen und Bellen von sämtlichen Tiergruppen, von Vögeln, Fischen, Säugetieren und Insekten. Eine beachtliche Sammlung.

Sie ist untergebracht in einem unauffälligen Raum im ersten Stock eines Gebäudes der Humboldt-Universität, gleich hinter dem Naturkundemuseum. In dem Zimmer steht ein Schreibtisch, es liegen mehrere Mikrofone herum. Ein vergilbtes Poster an einem Glasschrank zeigt die Pfeilgiftfroscharten, die es auf der Welt gibt. Daneben warten dann aber schon die Regale mit den Tonbändern. Sie füllen ein Drittel des Raumes aus. Man kann sagen, es ist das Lebenswerk von Günter Tembrock, das hier lagert.

Tembrock, der heute schon 85 ist und längst in Pension, hat in den 50er-Jahren mit dem Archivieren angefangen. Tembrock hatte einen Lehrstuhl für Bio-Akustik an der Humboldt-Universität. Und man kann sich denken, wie er die Treppen hoch gelaufen ist von dem alten Haus, rein in dieses Zimmer, die erste Ausbeute von den langen Wanderungen draußen in den Wiesen und Wäldern unterm Arm. Wie er es vorsichtig hoch getragen hat, das mühevoll aufgesammelte Geräusch, zusammen mit der schweren Ausrüstung, den Kabeln, den Richtmikrofonen, den Aufnahmekästen. Und wie sich dieses Sammeln zur Leidenschaft auswuchs.

Tembrocks besonderes Forschungsgebiet waren die Rotfüchse. Aber dann hat er auch Vogelstimmen und Insektenlaute aufgezeichnet mit seinem Gerät. Sich stunden- und tagelang auf die Lauer gelegt, bis er den Ton im Kasten hatte. Sogar an seinem Geburtstag ist er losgezogen. 1965 hat er zum Beispiel in Jena den Buchfink gefunden. Ein leichtes Pfeifen. Und als es drauf war auf dem Band, zusammen mit dem „Zilp-Zalp“ und ein paar anderen Vögeln, ist Tembrock gleich zurück nach Berlin, die breite Treppe hoch ins Zimmer, eine Karteikarte ausgefüllt, das Tonband in eine braune Papiertüte gesteckt, sie beschriftet und ins Regal sortiert. So fing es an.

Über 30 Jahre lang hat Günter Tembrock dann in der DDR eines der größten Tierstimmenarchive der Welt aufgebaut. Und dass die Regale mit den Tonbändern im ersten Stock der Humbolt-Universität trotz Mauerfall, Wiedervereinigung und Nachwende-Rezession immer noch stehen, ist allein sein Verdienst. Es sollte abgewickelt werden, das Archiv. Er hat dafür gekämpft. Er hat Briefe geschrieben, hat sich mit der neuen Uni-Leitung gestritten, hat mit den geringen Unterhaltskosten argumentiert. Günter Tembrock hat sich durchgesetzt. Das Archiv durfte bleiben.

Inzwischen ist das natürlich ein Problem mit Tembrocks Tonbändern. Sie gehen kaputt über die Jahre. Karl-Heinz Frommolt, der inzwischen das Tierstimmenarchiv am Fachbereich Bioakustik der Humboldt-Universität leitet, ist ein kleiner, stiller Mann, 42 Jahre alt, und Frommolts vordringlichste Aufgabe ist es derzeit, dafür zu sorgen, dass die wertvollen Aufnahmen nicht verloren gehen. Dafür muss das Material digitalisiert werden. Das ganze Amselgezwitscher, Hundegebell, Heuschreckengezirpe. Ein Auftrag, der zu groß ist für einen Wissenschaftler allein und eine technische Hilfskraft. Man muss die Bestände genau anhören, auswerten, Nebengeräusche ausmachen, das Aussortierte in den Computer einspeisen, Datenbanken erstellen. Allein das Anhören jedes einzelnen Bandes würde viele Monate dauern. „Kaum zu schaffen ist das“, sagt Frommolt in seiner ruhigen Art. 1.000 Aufnahmen haben sie in eineinhalb Jahren digitalisiert, ein kleiner Bruchteil des Bestandes.

Der Vorrat, der in den Schränken lagert, ist kostbar. Nie wieder wird man die Aufnahmen der Birkhuhnbalze im Kremmener Luch einfangen können. Birkhühner sind längst ausgestorben in dieser Region. Und wer sich einmal tiefer hineingräbt in die Sammlung, stößt auf diesen sehr eigenwilligen Wortschatz. Die Sprache, die die Forscher zum Katalogisieren der akustischen Tierwelt entwickelt haben. Da gibt es das „Muffen“ der von Tembrock beobachteten Rotfüchsin „Fiffi“, das „einsilbige Stoßkeckern“, ein „Begrüßungswinseln“, ein helles „Quärren“ und andere „Bellstrophen“.

Irgendwann fragt sich Besucher, was macht eine Stadt wie Berlin mit solchen Tondokumenten? „Wissenschaft“, antwortet Karl-Heinz Frommolt knapp. Spezialisten aus aller Welt nutzen das Berliner Archiv für Forschungszwecke, sie schätzen die einmalige Qualität und Größe des Bestands. Die Aufnahmen werden dabei vor allem zur Kommunikation mit anderen Tieren eingesetzt. Frommolt hat das selbst schon oft getan. Er ist nach Usbekistan gefahren und hat Wölfe beobachtet. Er hat den Tieren das Wolfsgeheul aus dem Berliner Archiv vorgespielt und konnte die echten Artgenossen damit anlocken. Nun muss man zugeben, dass das keine wirklich neue Methode ist. Alte Wolfsjäger kennen diesen Kniff schon lange. Da muss man nur nachlesen in der russischen Jagdliteratur des 19. Jahrhunderts. Die Jäger haben sich in den Wald gestellt, Wolfsgeheul imitiert und so ihre Beute geködert. „Aber trotzdem“, sagt Frommolt. „Die Tierforschung gewinn mit dieser Methode Erkenntnisse.“ – „Tiere halten sich anhand ihrer Stimmen auseinander.“ Das ist zum Beispiel so eine Erkenntnis, die Frommolt anführt. Auch wenn sie ein bisschen banal klingt. Aber tatsächlich ist es wenig, was die Wissenschaft bislang zur Kommunikation unter Tieren herausgefunden hat. Dabei Wunschist das doch der große Wunsch, der einem Tierstimmenarchiv anhängt. Dass es hilft, ein Übersetzungsprogramm zu finden für die Sprache der Insekten, Vögel und Wale. Und was sagt ein Hund, wenn er leise knurrt?

Karl-Heinz Fommolt lächelt. Es ist das nachsichtige Lächeln des Experten, der es besser weiß. In Wahrheit gibt es nur einen einzigen Fall, sagt er, in dem man exakt entschlüsseln kann, was das Tiergeräusch bedeutet: „Das ist bei der grünen Meerkatze.“ Diese Affenart stößt unterschiedliche Warnrufe aus. Bei einer Schlange klingen die Schreie anders, als wenn die Meerkatze ihre Artgenossen vor Luftfeinden warnt. Forscher können diese Laute eindeutig zuordnen. „Das ist der einzige Fall, wo eine Übersetzung funktioniert.“

Dafür weiß man mittlerweile andere Dinge. Zum Beispiel dass Vögel neue Töne lernen, Säugetiere nicht. Regelrechte regionale Dialekte können Vögel entwickeln. Die Goldammer zum Beispiel singt nördlich einer bestimmten geographischen Linie anders als ihre südlichen Artgenossen. Man kann nicht genau sagen, warum, das so ist. „Es hat etwas damit zu tun, dass die Vögel immer wieder zu ihren angestammten Nistplätzen zurückkehren“, meint Frommolt, „die Arten vermischen sich nicht richtig.“ Das könnte ein Grund für die Dialekte sein, Frommolt kann es nicht genau sagen. Aber er kann einem den Unterschied vorspielen mit seinem Archiv.

Deswegen ist es doch wirklich schön, dass es diese wunderbare Sammlung gibt. Dass man sich in einen unscheinbaren Raum der Berliner Humboldt-Universität stellen kann und den Goldammern zuhören und einem ein Mann wie Karl-Heinz Frommolt gegenübersitzt, der mit leuchtenden Augen erzählt, dass selbst die Fische nicht so stumm sind, wie man denkt. Frommolt meint nicht die Wale und die Delphine. Er meint die kleinen unscheinbaren Fische, die überall umherschwimmen. Auch sie machen Geräusch.

Was diese Laute bedeuten, kann er nicht sagen. Aber Frommolt ist Wissenschaftler genug, dass ihm die Ratlosigkeit in der Welt eher als Herausforderung denn als trostlose Angelegenheit begegnet: „Für mich sind mehr Fragen offen als geklärt“, sagt Fromolt bescheiden. Der Archivar bleibt auf seinem Stuhl sitzen. Er macht einen sehr glücklichen Eindruck.