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: „Der Streit um den heißen Brei“ zeigt die kulturelle Seite von Mangelernährung, Übergewicht und Alkoholwahn

Vom Brei zum Burger

Mein schlimmstes Frühstückserlebnis habe ich England zu verdanken. Nach einer lustigen Silvesterparty im Kreise der Southamptoner Trinkeravantgarde scharte sich am nächsten Morgen der verkaterte Haufen um einen Topf mit gräulich-klebriger Masse. Dorthinein wurden frisches Obst und Rosinen versenkt. „Porridge“, klärte mich jemand auf, und ich verschwand schnell, bevor mich ein Schüsselchen dieses ekelhaften Haferbreis wegen interkultureller Höflichkeit zum Probieren gezwungen hätte.

Dabei gilt Brei als gesundes Nahrungsmittel, das Millionen von Menschen über den Tag bringt. In Afrika noch heute, und vor langer Zeit auch in Europa. Hirsebrei, Griesbrei, Buchweizengrütze und diverse andere Sorten dienten bis ins 19. Jahrhundert breiten Bevölkerungsschichten als Nahrungsgrundlage. Das und noch einiges mehr bringt die Ernährungsanthropologin Elisabeth Meyer-Renschhausen in ihrer 152-seitigen Aufsatzsammlung zur Sprache. Dabei geht es nicht nur um den Brei, der zur vorletzten Jahrhundertwende unter Vegetariern unterschiedlicher Radikalität zu Auseinandersetzungen führte – daher der Titel des Buches –, sondern vor allem um die Auswirkungen der Industrialisierung. Dass breite Bevölkerungsschichten plötzlich vom Brei auf Weißbrot, Kaffee und Zucker ausweichen müssen, führt zu Mangelerscheinungen und Unterernährung trotz offensichtlichen Nahrungsangebots. Die zunehmende Völlerei in bürgerlichen Haushalten im 19. Jahrhundert trägt wiederum dazu bei, dass Frauen immer öfter nur noch am Herd stehen, um den Herren ein mindestens viergängiges Menü zu servieren. Die Tatsache, dass dabei oftmals nur der Mann vom Braten essen durfte und Frauen und Kinder sich mit Gemüse und Kartoffeln begnügen mussten, hat uns Kindern früher schon imponiert, als Vater immer die Geschichte von dem Hering erzählte, an dem alle Kinder einmal lecken durften, bevor ihn der Hausherr vor aller Augen verspeiste. Und dann noch der Alkohol. Ihm widmet Meyer-Renschhausen ein eigenes Kapitel. Es handelt vom zunehmenden Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert (rund 7 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr!) und der internationalen Antialkoholbewegung, die von Frauen ausging. So eröffneten Frauenrechtlerinnen wie zum Beispiel Ottilie Hoffmann um die vorletzte Jahrhundertwende alkoholfreie Gaststätten und versuchten, dem Suff mit Bouillon und Kaffee Einhalt zu gebieten. Dass Frauen zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Veranstaltungen jahrhundertelang keinen Zugang hatten, erklärt die Wissenschaftlerin mit dem gemeinschaftlichen Besäufnis der Männer bei solchen Anlässen. Dabei wollte man lieber unter sich bleiben.

Dass es von jeher auch genügend Kritiker der modernen Ess- und Trinkgewohnheiten gab, zeigt allein die Tatsache, dass 1913 die Naturheilkunde-Vereine in Deutschland rund 150.000 Mitglieder hatten. Ganz zu schweigen von den Diätforschungen fleißiger Heilkundler wie Bircher-Benner, Kellog und Co. Lebensreformbewegung, Wandervögel, Mäßigkeitsbewegung – sie alle wollten etwas ändern an der ungesunden Lebensweise des industrialisierten Menschen. Und haben es doch bis heute nicht geschafft. CHRISTINE BERGER

Elisabeth Meyer-Renschhausen: „Der Streit um den heißen Brei. Zu Ökologie und Geschlecht einer Kulturanthropologie der Ernährung“. Centaurus Verlag, Herbolzheim 2002