Vorsicht, Brandgefahr!

Der neue Henning-Mankell-Krimi est arrivé: In „Vor dem Frost“ übergibt Kommissar Wallander die Geschäfte an seine Tochter Linda, die jetzt auch bei der Polizei gelandet ist

„Vor dem Frost“ist kein reiner Linda-, sondern ein halber Kurt-Roman

Tatsächlich war ein weiterer Band geplant. 1998 hatte Henning Mankell „Die Brandmauer“ fertig gestellt, den achten Roman mit Kurt Wallander. Während seine Fans sich in einem Erzählband über die frühen Jahren des schwedischen Polizeikommissars informieren konnten, schrieb Mankell an Wallander Nummer neun – und hielt das Manuskript dann nicht für gut genug, wie er in einem Interview erklärte: „Ich habe es verbrannt, Seite für Seite.“

Möglicherweise ist ihm in dem Moment, als die Blätter vor ihm in Flammen aufgingen, die Idee für den Anfang von „Vor dem Frost“ gekommen: „Das brennende Benzin setzte sofort die Flügel der Schwäne in Brand. Flatternden Feuerbällen gleich versuchten sie, ihrer Qual zu entkommen, indem sie auf den See hinausflogen. Er nahm das Bild und die Geräusche dessen, was er sah, in sich auf, die brennenden, schreienden Vögel, die über den See davonflatterten, bevor sie ins Wasser stürzten.“

Das ist ein starkes, kinotaugliches Bild: Henning Mankell hält sich in „Vor dem Frost“, der seit gestern in deutscher Übersetzung vorliegt, weiterhin an das erprobte literarische Breitwandformat. Die Hauptfigur allerdings hat er ausgetauscht. Linda, Wallanders Tochter, steht nun im Mittelpunkt. Mankell hatte sie vorsorglich in „Die Brandmauer“ erwähnen lassen, dass sie Polizistin werden wolle. Zunächst klang das nicht unbedingt überzeugend, da Linda bisher vor allem als etwas sprunghafte junge Frau vorgestellt worden war, die in Stockholm zunächst eine Abendschule besuchte, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt und sich als Schauspielerin versuchte. Sie wechselt häufig ihre Freunde und hat außerdem schon zwei Selbstmordversuche hinter sich, und Mankell muss geahnt haben, dass eine Figur, die mehr oder weniger nur aus Ecken und Kanten besteht, kein ganzes Buch zusammenhält. Darum ist „Vor dem Frost“ auch kein reiner Linda-, sondern ein halber Kurt-Roman geworden.

Ein paar Tage bevor Linda als Polizeianwärterin in Ystad anfangen soll, wird sie in eine laufende Ermittlung ihres Vaters hineingezogen: In einer Waldhütte wird die zerstückelte Leiche einer Frau gefunden. In der Hütte liegt eine Bibel, in der jemand einige Textstellen handschriftlich nachgebessert hat, ansonsten aber gibt es keine Spur, die zu dem Täter führen könnte – bis Lindas Freundin spurlos verschwindet und der Name der ermordeten Frau in ihrem Tagebuch erwähnt wird. Selbstverständlich hält Linda sich an keinen Ratschlag ihres Vaters und beginnt selbst zu recherchieren.

Als sie dabei auf eine selbstmörderische christliche Sekte stößt, ist es fast schon zu spät: Spannend ist „Vor dem Frost“ allemal, dazu muss man nicht viel sagen. Mankell weiß, wie er seine Leser durch die Seiten treiben kann. Bemerkenswert ist allerdings, dass er diesmal zunächst ganz auf das gewohnte gesellschaftskritische Hintergrundrauschen verzichtet. „Die schlechten Umstände sind es, die böse Handlungen erzeugen, nicht der Mensch selber“: Diese Überzeugung Mankells, mit der er eine große Leserschaft unter Sozialpädagogikstudentinnen gewonnen hat, zog sich bisher wie ein roter Faden durch seine Bücher und machte sie zuweilen nur schwer erträglich.

Linda kümmert der Zustand der schwedischen Gesellschaft und der Menschheit überhaupt erfreulich wenig, doch Mankell hängt an seinem Kommissar Wallander offenbar genauso wie an dessen Überzeugungen. Also lässt er ihn ganz am Schluss, als das Thema religiöser Fundamentalismus mehr als deutlich zu erkennen ist, noch einmal zu einem seiner großen Schwanengesänge ansetzen: Der Sektenführer, der nicht ein paar Tiere auf dem Gewissen hat, sondern gleich für mehrere terroristische Anschläge verantwortlich ist, sei „ein verzweifelter Mensch, der nur Böses und Verfall um sich herum wahrnahm. So gesehen konnte man ihn vielleicht verstehen, ohne freilich das, was er tat, zu entschuldigen.“ Schön, wenn sich alles erklären lässt …

Die Aussicht, dass Kurt Wallander trotz bevorstehender Pensionierung auch weiterhin a. D. von seinem Haus am Meer aus seiner Tochter mit solchen Überlegungen assistieren könnte, stimmt nicht gerade hoffnungsfroh. Es gibt jedoch auch Anzeichen für einen meditativen Rückzug Wallanders. Die gewohnten lakonischen Randbemerkungen zum Wetter – „Die Luft war kühl. Bald Herbst, dachte sie, bald Frost“ – werden von ihm zunehmend gelassener aufgenommen. An einer Stelle, als Linda ihren Vater fragt, wann in Schonen gewöhnlich der erste Schnee falle, antwortet er mit der Gelassenheit eines buddhistischen Priesters: „Der Winter kommt, wenn er kommt.“

KOLJA MENSING

Henning Mankell: „Vor dem Frost“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Zsolnay, Wien 2003. 541 S., 24,90 €