berliner szenen Der Mann vor Sting

Gezeichnet: Gott

Jesus lebt, er ist zum Schnulzensänger geworden. Der Mann, der da in Turnschuhen und Samtsakko an den Flügel der Waldbühne stolpert, klingt so, als wolle er sich selbst ans Kreuz nageln. „Agnus Dei“ heult er und wirft seinen Kopf hin und her, wie gepeinigt von den Sünden der Welt. Vor ihm warten 20.000 Fans, nicht auf ihn, sondern auf ihren guten alten Sting, auf ein bisschen gute Laune. „Hallo, mein Name ist Rufus Wainwright. Ihr kennt mich nicht, aber das ist okay“, flötet der Jammerlappen auf der Bühne, in Amerika schätzt man ihn als Songschreibergenie, als „Gay Messiah“. Er fährt sich lasziv durchs Haar.

„Ihr seid so viele, aber ich habe keine Angst.“ Dann greift er wieder in die Tasten, voller Inbrunst, voller Schwulst. „Halleluja“ singt er, ganz ergriffen wie beim Kirchentag. Die Sting-Fans rollen genervt mit den Augen, sie schauen auf ihre Handys. Tore per SMS, wie praktisch: „Ja! 2:1!“ Wainwright ist ganz verdattert. „Ihr seid so fröhlich. Liegt es an mir? Oder hat gerade euer Team gewonnen?“ Er kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Okay, dies hier ist mein letztes …“ – zustimmendes Gejohle aus den oberen Rängen – „Konzert als Opener von Sting. Und das hier ist ein Song über meinen Vater.“ Und weiter geht’s mit dem Gejammer: Jesus rief noch vom Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, Wainwright beschimpft auf der Bühne seinen Zeuger: „You loved me, you left me.“ Dann erst steht er auf, um die 20.000 zum Abschied zu segnen. Nicht mit „Gehet hin in Frieden“, er flötet einfach: „Good-bye, mein Schatz!“ So sei es.

Draußen an der S-Bahn-Station wartet schon eines dieser schwarzen Plakate: „Wir müssen miteinander reden – gezeichnet: Gott.“ Wer bezahlt die eigentlich?

JAN KEDVES