Gelbsüchtig

Ein entfesselt kurbelnder Jan Ullrich kommt Lance Armstrong immer näher. Aber auch Alexander Winokurow rückt dem US-Amerikaner zu Leibe

aus Loudenville SEBASTIAN MOLL

Andy ist ein bisschen durcheinander. Der Mann aus Oregon ist nach Frankreich gekommen, um den fünften Tour-Sieg Armstrongs mitzuerleben. Die gesamten drei Wochen reist er mit und zeltet nachts irgendwo zwischen Ziel und Start. Am Samstag schaute er sich im Pyrenäenort St. Girons die Etappe im Fernsehen an. Armstrong verlor wichtige Sekunden. Tags darauf war Andy an der Strecke und die Informationen, die ihn erreichten, waren nicht viel besser. Sein Held aus Texas verlor wieder wichtige Zeit – diesmal auf den Telekom-Profi Alexander Winokurow, der am letzten Berg, dem Col de Peyresourde, attackierte und am Gipfel 52 Sekunden auf Ullrich und Armstrong herausfuhr. Im Ziel, das der Italiener Gilberto Simoni als Erster erreichte, war Winokurows Vorsprung auf 42 Sekunden geschrumpft. Armstrong konnte das gelbe Trikot knapp verteidigen. Ullrichs Rückstand bleibt bei 15 Sekunden; Winokurow allerdings kam bis auf 18 Sekunden an Armstrong heran.

Dass Ullrich in diesem Jahr Armstrong in Bedrängnis bringt, ist wie eine Befreiung aus einem vier Jahre währenden Würgegriff. Nur Andy sieht das anders. Lance Armstrong hat auch so seine Probleme, mit der neuen Situation umzugehen. „Das ist völlig neu für mich“, gibt er zu. So schön hatte er sich seine Pläne für die Tour zurechtgelegt. Eine Mehrstufenrakete sollte das US Postal Team in den Bergen sein: Mit Rubiera und Beltran an der Spitze wollte Armstrong in die Passstraßen hineinschießen und dann mit Heras allen Konkurrenten davonfahren. Das funktionierte bisweilen ganz gut. Nur die letzte Stufe der Rakete mag nicht zünden: Armstrong selbst.

„Mit meiner Mannschaft bin ich zufrieden. Mit mir selbst – ich weiß nicht so recht“, hatte er bereits nach der großen Alpenetappe nach L’Alpe d’Huez gesagt. Nach der Niederlage im Zeitfahren war der Champion richtiggehend verstört. „Ich werde in den Pyrenäen angreifen“, sagte er. In der Pressekonferenz, zehn Minuten später, während sein nervöser Blick unruhig im Raum Halt suchte, ergänzte er: „Warum sollte ich angreifen. Ich habe das gelbe Trikot, es ist nicht meine Verantwortung, offensiv zu fahren.“ Die Träume von Armstrong werden unruhiger. Der Vorsprung auf die Konkurrenz schmilzt. Er wird sich wohl auch in den kommenden Tagen verringern.

Armstrong ist verwirrt über diese Entwicklung. Ullrich allerdings auch. Zu Beginn der Tour gab er als Ziel an, zu sehen, wie weit er auf dem Weg zurück an die Spitze denn schon gekommen ist. Als ihn Armstrong als Favoriten bezeichnete, bedankte er sich freundlich, wiegelte aber ab: „Das ehrt mich.“ Auf keinen Fall wollte er sich in eine Favoritenrolle hineindrängen lassen.

Das kann er nun wohl nicht mehr vermeiden. Auch wenn er darüber etwas konsterniert ist. „Ich bin sprachlos“, sagte er nach seinem Zeitfahrsieg, bei dem er so überlegen wirkte wie seit 1996 nicht mehr, als er Miguel Indurain besiegte. Erst langsam scheint ihm zu dämmern, dass er nach sechs Jahren zum zweiten Mal die Tour gewinnen kann: „Ich hätte mir nie vorgestellt, dass Lance schwächer ist, als in den Vorjahren. Ich fühle mich hingegen von Tag zu Tag besser“, sagte er am Samstag. „Das ändert einiges für den weiteren Verlauf der Tour“, so Ullrich.

In den Alpen sah es nicht danach aus, dass Ulrich um den Sieg würde fahren könnte. Nach L’Alpe d’Huez musste der Deutsche seine Gegner davonziehen lassen. „Ich wünschte, ich hätte meine jetzige Form schon zu Beginn der Tour gehabt“, sagt Ullrich. Jetzt stimmt die Form, und psychisch könnte es auch nicht besser um ihn bestellt sein. Er hat allen, vor allem aber sich selbst gezeigt, dass er nicht nur im Zeitfahren, sondern auch im regulären Rennen gegen Armstrong etwas ausrichten kann. Den Radsport-Fans hat Ullrich damit einen großen Gefallen getan. Andy ausgenommen.