Tony Blair erschüttert

Tod des Waffenexperten Kelly stürzt britische Regierung in schwere Krise. Premier Blair lehnt seinen Rücktritt ab und will „Zeit der Reflexion“

BERLIN taz ■ Der britische Premierminister Tony Blair bleibt vorerst im Amt, aber der Selbstmord des Irak-Waffenexperten David Kelly hat seine Regierung erschüttert. In Südkoreas Hauptstadt Seoul lehnte Blair am Wochenende Rücktrittsforderungen ab und sagte, er habe „Lust“, weiterzumachen. Zugleich versuchte er, die öffentliche Diskussion um Kellys Selbstmord einzudämmen. „Ich denke, wir brauchen eine Zeit der Reflexion und Zeit für die richterliche Untersuchung, und wir müssen der Familie Zeit zu trauern lassen.“

David Kelly, Experte für die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im britischen Verteidigungsministerium, war am Freitag tot an einem Waldrand einige Kilometer außerhalb seines südenglischen Wohnortes aufgefunden worden. Er war zuvor gegen seinen Willen in die Kontroverse um einen umstrittenen BBC-Bericht geraten, in dem es unter Berufung auf eine ungenannte Quelle geheißen hatte, die britische Regierung habe in einem im September 2002 veröffentlichten Dossier über Iraks Massenvernichtungswaffen Geheimdienstinformationen aufgebauscht, um einen Krieg zu rechtfertigen. Kelly hatte letzten Dienstag vor einem Parlamentsausschuss bestritten, Quelle für den Bericht zu sein, was zuvor sein eigenes Ministerium behauptet hatte. Die BBC hatte sich unter Hinweis auf den Informantenschutz in Schweigen gehüllt. Gestern erklärte der Sender, Kelly sei tatsächlich wichtigste Quelle gewesen.

Die Polizei bestätigte am Samstag Kellys Selbstmord und sagte, der 59-Jährige habe sich die linke Pulsader aufgeschnitten und zuvor Schmerzmittel geschluckt. Sein Büro im Londoner Regierungsviertel wurde versiegelt. Die Regierung hat eine unabhängige richterliche Untersuchung von Kellys Todesumständen angeordnet.

Die BBC-Erklärung, wonach Kelly tatsächlich ihre „Hauptquelle“ gewesen sei, hat die Kontroverse jedoch nicht beendet. „Wir glauben weiterhin, dass wir richtig gehandelt haben, als wir Dr. Kellys Ansichten öffentlich machten“, erklärte der Staatssender. Kelly selbst hatte vor dem außenpolitischen Ausschuss des Unterhauses am Dienstag zwar bestätigt, den BBC-Journalisten Andrew Gilligan am 22. Mai in einem Londoner Hotel getroffen zu haben – das Datum, das Gilligan als das seines Treffens mit seinem Informanten genannt hatte. Er bestritt jedoch, dass der BBC-Bericht den Inhalt seines Gesprächs mit Gilligan korrekt wiedergegeben habe.

So hat entweder Kelly vor dem Parlamentsausschuss gelogen, oder BBC-Journalist Gilligan hat aus seinem Gespräch mit Kelly ungedeckte Schlüsse gezogen, oder es gibt noch weitere BBC-Informanten. Solche Fragen werden voraussichtlich in der richterlichen Untersuchung auftauchen, prognostizierte BBC-Chefredakteur Andrew Marr gestern: „Die BBC muss ernste Fragen beantworten. Tat sie genug, um Kelly als Quelle zu schützen? Hätte sie das früher preisgeben sollen? Hätte dies Druck von Kelly genommen? Natürlich wird die BBC Teil der Untersuchung sein.“

Marr meinte auch, der Ausgang der Ermittlungen würde über die politische Zukunft des britischen Verteidigungsministers Geoff Hoon und des Blair-Chefsprechers Alastair Campbell entscheiden. Freundes des Toten kritisierten gestern die Art, wie Kelly politisch unter Druck gesetzt wurde. Kelly hatte wenige Stunden vor seinem Tod in einer E-Mail in die USA gesagt, es gebe um ihn herum „viele dunkle Akteure, die Spielchen treiben“. Die Sunday Times berichtete, er habe sich von seinem Ministerium verraten gefühlt. Andrew Caxton, ein Kollege Kellys aus seiner Lehrzeit in Oxford, sagte: „Blair hat Blut an seinen Händen. Seine Partei sorgte dafür, dass Kelly zerstört wurde. Er war durch die parlamentarische Untersuchung am Boden zerstört. Für ihn war ein guter Ruf alles.“

Das kann man allerdings auch für Premierminister Blair sagen, der nun auch gegen die Zerstörung seines guten Rufes kämpft. Eine Sondersitzung des Parlaments lehnte er ab, ebenso eine Unterbrechung seiner derzeitigen Asienreise. Er forderte von der Öffentlichkeit „Respekt und Zurückhaltung“ – wohl vor allem gegenüber sich selbst. D.J.

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