fußpflege unter der grasnarbe
: Engel auf einer Nadelspitze

Am Freitag war er wieder da. Er ist wahrscheinlich jeden Tag da auf der Wiese neben dem Spielplatz, die man kaum noch als Wiese bezeichnen möchte, denn die nicht umgepflügten Grashalme sind an einer Hand abzuzählen. Wenn ich dort vorbeikomme, ist er jedenfalls da. Auf den Rücken seines Hannover 96-Trikots ist mit Kreppband die 13 geklebt, darunter mit fettem Filzstift geschrieben: Brdaric. Fünf Jahre ist er alt und spielt nichts anderes als Fußball. Der Knirps aus der Nachbarschaft, ungestüm kämpfend und technisch begabt, wurde nicht für die EM berufen, stattdessen sein Idol, der Mann, auf dessen Nichtberücksichtigung ich einen beliebigen Betrag gewettet hätte, wenn ich Wetten, die ich verlieren kann, nicht grundsätzlich ablehnen würde. Nun durfte Thomas Brdaric doch mitfliegen.

Wie jeder Nationalstolz ist mir auch der Lokalpatriotismus fremd. Ganz abgesehen davon, dass er ohnehin Quatsch ist, wäre er absurd im Falle des von Bayer Leverkusen ausgeliehenen Stürmers, der mit zwölf Toren zum Klassenerhalt von Hannover 96 beigetragen hat. Brdaric ist nach Bobic der Nächste, der die Zeit bei 96 genutzt hat, um sich in die Nationalmannschaft zu spielen – und um das Begehren anderer Vereine zu wecken. Nun hat er beim VfL Wolfsburg angeheuert. Das ist sein gutes Recht. Die Art und Weise ist es, die nervt. Jüngst habe er, wie zu lesen war, durch einen „Rundumschlag“ signalisiert, kein Interesse an einer Weiterbeschäftigung bei den Roten zu haben. Man traute es ihm zu, er stritt es ab. Noch am Freitag war auf seiner Homepage zu lesen: „Im Moment ist meine Zukunft völlig offen, es ist keine Entscheidung gefallen, auch nicht gegen Hannover 96.“

Das Hin und Her brachte mich über einen weiten Umweg zu einem anderen Thema, bei dem ich mir vorkam wie einer dieser Theologen aus dem Mittelalter, die leidenschaftlich über die Frage disputierten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden. Obwohl der schiefe Vergleich mächtig hinkt, ist er mir eingefallen, als ich mich dabei erwischte, die Kader der an der EM beteiligten Nationalmannschaften darauf hin zu durchforsten, wie viele und welche Spieler bei norddeutschen Bundesligisten beschäftigt sind.

Wenn die Unterlagen korrekt sind, ich aus keiner Zeile gerutscht bin, dann sind es zehn von 368; demnach, wenn ich drittens die Gebrauchsanweisung für den Dreisatz richtig angewandt habe, genau 2,72 Prozent. Wär‘s ein Wahlergebnis, würde man die Fraktion der Nordvereine als Splitterpartei bezeichnen. Doch wer weiß, welchen Letten, Russen oder Italiener sie anschließend verpflichten ...

Und was treiben sie so, dort im äußersten Westen Europas? Lassen wir die drei Schweizer – Barnetta eingerechnet, den 96 von Leverkusen ausleiht – und die drei mit deutschem Pass beiseite, so ist da zum Beispiel Martin Petrov vom VfL Wolfsburg, der nach dem 0:2 gegen Dänemark wieder nach Hause fährt. Ivan Klasnic? Will freiwillig die Heimreise antreten, weil ihn Otto Baric bisher keine Minute eingesetzt hat. Tomas Ujfalusi vom HSV? Leistete sich ein einziges Foul beim knappen Sieg gegen Lettland. Und Charisteas? Der schwebt verdientermaßen auf Wolke sieben, aber bestimmt, ohne den Bodenkontakt zu verlieren. Ob das so bleibt, war bis Redaktionsschluss nicht zu ermitteln. Ebenso wenig, ob der Junge von der Wiese neben dem Spielplatz sein Trikot umdekoriert, mit Kreppband und Filzstift.

Fotohinweis: Dietrich zur Nedden lebt als freier Autor in Hannover und war schon Norddeutscher Meister: als Torwart bei der B-Jugend von Hannover 96