Anstrengende Tage

Die bislang größten Spiele für Sportler mit geistiger Behinderung in Deutschland forderten nicht nur körperliche Höchstleistungen: Mit der Direktorin der Special Olympics erlebte die taz einen herausfordernden Rückblick

aus Hamburg Hendrik Ternieden

Nives Ebert ist Direktorin der Special Olympics Deutschland und eine viel gefragte Frau. Die vergangenen Wochen hindurch klingelte das Handy der 47-Jährigen Würzburgerin im Minutentakt. Für ihren Einsatz am Mobiltelefon hätte sie eigentlich ebenso eine Medaille verdient wie jeder der Teilnehmer an den von ihr und ihrem Team organisierten Spielen. Das mit ihr für 9 Uhr morgens geplante Gespräch im Hamburger Queens Hotel muss kurzerhand auf die Autofahrt zum Olympic Town verlegt werden. Sie käme wieder einmal nicht vom Telefon weg, teilt ihr Ehemann mit.

Das gibt Zeit, sich in der Lobby ein Bild von den Hauptdarstellern der Spiele zu machen – den Sportlern. Am Tisch sitzt der halbseitig gelähmte Christian aus der Nähe von Basel und flirtet mit der Frau an der Rezeption. Zwei ehrenamtliche Helferinnen machen sich auf den Weg in den nahe gelegenen Stadtpark – auch am letzten Tag der Spiele wird ihre Hilfe dringend benötigt. Auf dem Weg zum Ausgang holen sie sich noch ein Kompliment von Christian ab, der zwischendurch verzweifelt versucht, dem Kollegen vom Nachbartisch klar zu machen, dass er nicht mit der S-Bahn bis nach Basel fährt, sondern mit dem Nachtzug.

Nives Ebert hat es unterdessen geschafft, sich des Telefons zu entledigen und kommt gut gelaunt die Treppe hinunter. Sie ist eine kleine Frau, trägt schwarze Jeans und schwarzes Oberteil, wirkt vergnügt und voller Tatendrang. Die Woche, die hinter ihr liegt, sieht man ihr nicht an. Allein 2.500 Helfer hat sie in ihre Aufgaben bei diesen Special Olympics National Games eingewiesen, 3.500 Athleten mit ihren 1.000 Betreuern zu den jeweiligen Quartieren gebracht.

„Das war gleich ein Großkampftag“, erinnert sie sich, mittlerweile im Auto, und atmet durch. Dazu ist sie zuletzt selten gekommen. Schließlich musste die große Eröffnungsfeier in der Color-Line-Arena vorbereitet und durchgeführt werden. Treffen mit dem Präsidenten der Internationalen Special Olympics, Dr. Timothy Shriver, und den Empfang bei Bundesinnenminister Otto Schily in Berlin wurden zwischendurch erledigt. Am Donnerstag, zurück in Hamburg, stand gemeinsam mit Shriver der Besuch der Spiele an. Und nun, am Freitag, die Abschlusszeremonie.

Unterdessen lenkt ihr Mann sie im Kombi in Richtung Stadtpark. Während der kurzen Fahrt klingelt ihr Mobiltelefon wieder, zweimal, und so muss der Rest des Gesprächs vor Ort stattfinden. Um 10 Uhr hat sie dort etwas zu erledigen, eine Kleinigkeit nur, verglichen zumindest mit dem Aufwand der hinter ihr liegenden Tage.

So bleibt Zeit genug, eine weitere Person kennen zu lernen, die die Special Olympics zu einer gelungenen Veranstaltung gemacht hat. In einem riesigen Zelt arbeitet Reinald Koderhand. Der 41-Jährige ist als Mitarbeiter beim Sponsor Essilor jeden Tag im Einsatz. Mitten im Olympic Town führt er zusammen mit seinen Kollegen bei über 3.000 Athleten verschiedene Sehtests durch, so dass viele der Sportler speziell angefertigte Sehhilfen bekommen, was teilweise dringend erforderlich ist. Koderhands Zelt ist voll gestopft mit sensiblen medizinischen Geräten, ein Gewirr aus hunderten von Stimmen erfüllt den Raum. Wenn es stark regnet, kann man darin kaum sein eigenes Wort verstehen. Und es hat viel geregnet in dieser Woche. Es waren anstrengende Tage für Koderhand, der abends hundemüde ins Bett fiel. Doch wenn ihn ein Sportler dankbar anlächelt, weil er die Welt mit neuen Augen sieht, ist das für ihn eine wundervolle Bestätigung.

Inzwischen ist Nives Ebert zurückgekehrt und schildert, warum sie der Verlauf der Veranstaltung so zufrieden stellt: „Das Schönste ist, dass die Sportler für sich selbst werben können“, sagt Ebert, „das hat auch in Hamburg wieder funktioniert.“ Und sie strahlt dabei, auch wenn sie zwischendurch dreimal angerufen wird, und zwei Helferinnen wissen wollen, wo sie die Blumen für die Siegerehrung herbekommen. Eine der vielen Kleinigkeiten, um die sich Ebert am Rande auch noch kümmert. Als allerdings ein Sportler mit ihr seine Rede für die Abschlussfeier durchgehen möchte, verweist sie freundlich an ihren Mann. Auch das versprochene Gespräch mit der taz vergisst sie niemals so ganz. Schließlich soll auch die Öffentlichkeit erfahren, worin das wesentliche Problem der Special Olympics liegt.

„Der Bedarf an Finanzmitteln ist nach wie vor groß“, gibt sie zu bedenken. Die Spiele seien in der Bevölkerung immer noch zu wenig präsent – obwohl jährlich bereits 150 lokale Veranstaltungen mit geistig behinderten Sportlern stattfinden. Trotzdem gestaltet sich die Suche nach Sponsoren als schwierig. Mit der Veranstaltung in Hamburg haben die Special Olympics hierzulande einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht. Eine Veranstaltung dieser Größenordnung gab es in Deutschland bisher nicht: „Das Medieninteresse ist gestiegen, die Zuschauerzahlen waren zufrieden stellend“, sagt Nives Ebert. Daran konnte nicht einmal das bestenfalls als wechselhaft zu bezeichnende Hamburger Wetter etwas ändern.

Von der Stadt hat sie beinahe nichts gesehen – dafür fehlte einfach die Zeit. Das will sie nun nachholen. Wenn heute die Normalität wieder Einzug in das Leben aller Beteiligten hält, die vielen ehrenamtlichen Helfer wieder die Schulbank drücken und für Reinald Koderhand ein unaufgeregter Arbeitstag ansteht, wird Nives Ebert sich mit Tatendrang einer Aufgabe widmen, die sie seit einem Jahr vernachlässigt hat: ihren Schreibtisch aufräumen.