Mahnmahl mit käuflichem Inhalt

Die Fassaden des zerstörten herzöglichen Schlosses zu Braunschweig will ein Hamburger Investor rekonstruieren. Etwas Ähnliches wie die Dresdner Frauenkirche sehen die Befürworter des Wiederaufbaus da wachsen – obwohl die Schmuckwände eine gigantische Einkaufsmall verzieren sollen

Zum Weihnachtsgeschäft 2006 könntenAldi, H & M und Co das Schloss beziehenEine neue Front:Helge Bofinger kämpft juristisch für sein Wasserbecken im Park

aus Braunschweig Kai Schöneberg

Genau zehn Jahre nachdem Walter Ulbricht in Berlin das Stadtschloss abreißen ließ, um dort einen „großen Demonstrationsplatz zu errichten, auf dem der Kampfwille unseres Volkes Ausdruck finden“ könne, passierte im adenauerischen Westen ganz erstaunlich Analoges: Mit einer Stimme Mehrheit beschloss der SPD-dominierte Braunschweiger Stadtrat im Jahr 1960, das im Krieg stark zerstörte Braunschweiger Renaissance-Schloss abzureißen.

Kurz vor Beginn der Sommerpause 2003 gab es erneut eine Mehrheit von einer Stimme im Braunschweiger Stadtrat. Diesmal beschloss das CDU- und FDP-dominierte Gremium,drei Fassaden des Welfenschlosses wieder aufzubauen – als Teil eines gigantischen Einkaufszentrums mit 33.000 Quadratmetern Nutzfläche. Kosten der „Schlossarkaden“ des Hamburger Mall-Betreibers ECE: 200 Millionen Euro.

Die Welfenmall entzweit Braunschweig – noch „nie“ seit dem Abriss des Schlosses sei in der Stadt derartig so über ein Bauprojekt gestritten worden, schreibt die Lokalpresse. Damals hatte es auch Pläne gegeben, das von Bomben ramponierte Gebäude mit neuem Inhalt wieder auferstehen zu lassen: Und zwar mit Kultur, Kinos und Geschäften. Ein „marxistisch“ gefärbter Stadtrat habe das Projekt jedoch verhindert, sagen die Befürworter des Schlossshoppings.

Schon im zweiten Halbjahr 2004 sollen die Bagger im Braunschweiger Schlosspark anrücken, zum Weihnachtsgeschäft 2006 dürfte die Welfenfassade Aldi, H & M und Co verpacken. Dabei sollen die Gemäuer des 1840 fertig gestellten Schlosses möglichst originalgetreu errichtet werden, versichert ECE.

Nach dem Abriss waren die Schlosstrümmer an drei Plätzen in Braunschweig vergraben worden. Aus diesen Schutthaufen will man sich bedienen.

Auf jeden Fall dürfte ein ECE-Center das Einkaufverhalten der Braunschweiger verändern: Allein der Teil mit den drei Schlossfassaden hätte ungefähr die Größe eines Fußballfelds (116 mal 60 Meter), wäre jedoch 20 Meter hoch. Hinter den Schlossmauern plant ECE jedoch einen noch etwa zweimal so großen Komplex, der – mit der üblichen Shopping-Mall-Außenansicht – an die pseudohistorischen Wände anschließen soll.

Die Parallelen zum Krach um das Preußenschloss in der Hauptstadt sind frappierend. Das Braunschweiger Schloss wurde nämlich auch geschliffen, weil es ein Relikt der Unzeit war. Der letzte große Palastbau Europas hatte seinerzeit den braunschweigisch-lüneburgischen Herzögen als Verwaltungssitz gedient. Zudem war zu Nazi-Zeiten eine SS-Junkerschule dort eingezogen.

Während in Berlin die Debatte um die „potemkinschen Fassaden“ wegen knapper Kassen abgeebbt ist, geht der Streit in Braunschweig derzeit in eine neue Runde. Angestachelt durch den Ratsbeschluss sammelte eine Bürgerinitiative schon am ersten Wochenende 3.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen das Monster.

Die Protestler sehen im ECE-Schloss einen Kotau der Stadt vor dem Kapital. „Die Mall kann kein städtebauliches Gesamtkonzept ersetzen“, sagt Nicole Palm, die das Begehren initiiert hat. Sie fragt sich auch, wie das historisierende Einkaufszentrum zu den Plänen Braunschweigs passen soll, den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2010 zu ergattern.

In 200 Geschäften der City liegen jetzt Listen aus. Palm ist sicher, die nötigen 20.000 Stimmen bald zusammen zu haben. Dann müsste sich der Stadtrat erneut mit dem „Einkaufsklotz“ beschäftigen.

Viele City-Händler dürften sich beteiligen. „Ich unterschreibe“, sagt Sybille Ackermann vom Braunschweiger Einzelhandelsverband. Auch die City-Kaufmannschaft geht auf die Barrikaden, weil sie befürchtet, dass die Innenstadt ausstirbt, wenn ECE mit seinen Filialen großer Ketten nach Braunschweig zieht. „Das hätte eine zerstörerische Wirkung auf die Innenstadt“, sagt Ackermann.

Schon jetzt gibt es zehn Prozent Leerstand in der City. Als problematisch wird die Entfernunung der Schlossarkaden zum Zentrum angesehen: Zehn Minuten wird ein Bummel vom Stadtkern aus dauern – Schloss-Einkäufer dürften die City in Zukunft meiden, weil sie hinter den Schlossfassaden schon ihr Geld ausgegeben haben, sagen die Händler.

Eine Gruppe Architekten meint indes, man solle das Andenken an das Schloss schützen, indem es nicht rekonstruiert wird. Das hält der Braunschweiger Bau- und Kunsthistoriker Bernd Wedemeyer für „ganz großen Schwachsinn: Das wäre so, als ob man jemandem die Krücken wegnimmt und hofft, dass er laufen kann.“ Wedemeyer hat zwei Bücher über das echte Schloss geschrieben und will nun ein „Erinnerungsmal wie die Frauenkirche in Dresden wieder gewinnen, als Demokraten, im guten Sinne“.

Ob das mit dem profanen Inhalt des Einkaufsschlosses möglich ist, darf bezweifelt werden. Während die Befürworter hoffen, dass mit der Mall ein von den Bürgern akzeptiertes Modell der Geschichte entsteht, betonen die Gegner, Braunschweig verkaufe seine Seele an den bösen Mammon.

Inzwischen kündigt sich neuer Widerstand gegen die Arkaden an: Der Wiesbadener Architekturprofessor Helge Bofinger will rechtliche Schritte gegen den Abriss der von ihm geschaffenen Schmuckbauten im Braunschweiger Schlosspark einleiten: Sein Wasserbecken und sein Pavillon müssten dem Center weichen. Bofinger macht sein Urheberrecht geltend. Jetzt schrieb er an Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann, er erteile nicht sein Einverständnis zum Abriss und werde alle juristischen Möglichkeiten prüfen lassen. In einem Punkt immerhin hat die Stadt inzwischen eingelenkt: Von der angedachten Quadriga auf dem Shoppingtempel will Braunschweig nichts mehr wissen.