Ein täglich neues Dilemma

Gunther Kruse, Psychiatrie-Chef in Hannover, über die Anforderungen an die Psychiatrie, an die in ihr Tätigen – und an die Gesellschaft

Dr. Gunther Kruse ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hannover-Langenhagen. Den Bremer Fall der 41-Jährigen, die ihre Nachbarin tötete, kennt er nicht. Andere Fälle erlebt er jeden Tag.

taz: Wenn es jetzt heißt, solch ein Fall wie hier sei ein „Risiko, das man eingehen muss“ – würden Sie dem zustimmen?Dr. Gunther Kruse: Ja. Denn die Alternative ist, die Leute dauerhaft wegzuschließen, um jedes Restrisiko, das das menschliche Dasein bietet, auszuschließen. Dieses Restrisiko kann man prognostisch einschätzen, nach bestem Wissen und Gewissen. Zum Schluss aber können unvorhersehbare Dinge passieren.

Die Täterin ist aber mehrfach durch ihre Gewalttätigkeit aufgefallen.Wenn diese Frau mehrfach aufgefallen ist, die Polizei das an den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergeleitet hat, dann muss der abschätzen, ob die Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung vorliegen. Freiheitsberaubung contra Schutz der Umgebung ist eine Sache der Abwägung, die sich lange Zeit zugunsten der Freiheit neigte. Im Moment kippt das.

Es gab immer wieder Fälle, die dieses Kippen doch nahe legen. Oder ist das vor allem mediale Aufregung?Das spielt eine große Rolle. Aber dass diese Frau mal behandelt wurde, dass es irgendwann keine Möglichkeit mehr gibt, sie gegen ihren Willen in der Behandlung einzubehalten – das erlebe ich hier jeden Tag. Wenn ich dem Richter nicht darlegen kann, dass eine ganz unmittelbare Gefahr von dem Menschen ausgeht, entscheidet der Richter für Entlassung – auch wenn uns dabei mulmig ist. Andererseits können wir aus lauter Angst den Betroffenen nicht dauerhaft behalten oder die Situation künstlich dramatisieren.

Eine Gratwanderung.Genau. Das ist das Dilemma, mit dem wir in der Psychiatrie Tag für Tag umgehen müssen.

Aber auch eine Entwicklung, die sich aus dem Kampf für eine humanere Psychiatrie ergeben hat.Ich gehörte selber zu denen, die sich sehr für die Liberalisierung der Psychiatrie eingesetzt haben. Heute würde ich sagen, dass wir ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen sind. Jetzt fehlen uns die Instrumente. Wir müssen viele Leute laufen lassen, weil die Voraussetzungen zum Freiheitsentzug nicht ausreichen. Dann müssen die sich draußen ganz verrückt aufführen, um in die geschmähte Forensik (Gerichtspsychiatrie, Anm. d. Red.) zu kommen, wo sie die nächsten Jahre bleiben. Wenn es bessere Möglichkeiten gäbe, Menschen auch in der normalen Psychiatrie über Monate oder ein Jahr zu behandeln und sie gesund zu machen oder ihre Krankheit zu unterdrücken, dann wäre uns geholfen. Das geht jetzt nicht. Die Richter spielen aus Rechtsgründen nicht mit, die Krankenkassen aus Kostengründen.

Fragen: Susanne Gieffers