Monster mit Kalkül

Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson hat Englands Kreativkräfte in ein enges taktisches Korsett gepresst

LISSABON taz ■ Englische Zeitungen wissen immer mehr. Das Massenblatt The Sun berichtete einmal weltexklusiv von einem Mann in Derbyshire, der Hämorrhoidencreme mit Superkleber verwechselt und sich auf seiner Kloschüssel festgeklebt hatte. Dieser Tage nun schrieben die Londoner Boulevardblätter geschlossen von einem Aufstand der englischen Mittelfeldspieler gegen Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson, was die Fantasie der Leser nicht ganz so anregte wie der Mann auf der Kloschüssel. Denn es muss die leiseste Revolution der Welt gewesen sein. Selbst die Spieler, die sie angeblich veranstalteten, hatten davon nichts mitbekommen.

Das englische Mittelfeld, David Beckham, Paul Scholes, Frank Lampard und Steven Gerrard, war am Mittwoch, einen Tag vor dem Vorrundenspiel gegen die Schweiz (3:0), von Eriksson zu einer Besprechung gebeten worden. Es war ein freundlicher Gedankenaustausch über Probleme und Formation der Mittelreihe. Dies aber ist eine Europameisterschaft, ein Monat voller Hysterie und Überdrehtheit, da muss nur etwas von einem Treffen nach außen dringen und die halbe Welt schreit: „Krisenmeeting!“ Als Beckham nach dem Sieg über die Schweiz erzählte, „wir haben dem Trainer gesagt, dass wir uns im Mittelfeld mit vier Spielern auf einer Linie komfortabler fühlen als in einer Anordnung in Diamantenform“, erklang in der Presse der Ruf: „Revolution!“

So verbrachte der Trainer das Wochenende im englischen Quartier im Lissabonner Vorort Cruz Quebrada zum guten Teil damit, der Öffentlichkeit wie einem Kind, das ein bisschen schwer von Begriff ist, seine Arbeitsweise zu erklären. Ja, es gab Sitzungen mit Spielern, sagte Eriksson: „Ich mache das, seit ich Trainer wurde. Wenn du mit den Spielern redest und sie von deinen Ideen überzeugst, werden sie die Taktik viel besser umsetzen.“ Und dann konnte er nur noch lächeln. Er war gefragt worden, ob weiterhin er die Mannschaft aufstelle. „Ich kann Ihnen versichern: Ja, das mache ich.“

Selbstverständlich ist in all dieser lächerlichen Aufgeregtheit das Entscheidende völlig aus den Augen geraten: Es ist egal, ob England wie über weite Strecken der EM-Qualifikation mit dem Mittelfeld einen Diamanten zeichnet oder wie bis dato in Portugal eine gerade Schnur bildet – Englands Spiel ist für den Zuschauer nur schwer zu ertragen. Gerade jetzt, wo andere Favoriten dieses Turniers wie Tschechien, Spanien, die Niederlande mit geschwindem, attraktivem Fußball gefallen, sticht die Monotonie des englischen Spiels hervor. Der Schwede Eriksson habe aus England in den drei Jahren seiner Arbeit als erster ausländischer Nationaltrainer ein taktisch hervorragendes Team gemacht, heißt es gerne. Aber hat er es nicht auch in eine der langweiligsten Spitzenmannschaften seit der Erfindung des italienischen Defensivfußballs verwandelt? Tempo, traditionell die Basis des englischen Spiel, ist ein seltenes Gut geworden. Erikssons England ist besessen davon, die Ordnung nicht zu verlieren, die Kontrolle zu besitzen, ein kalkulierendes Monster, das dem Querpass huldigt.

Umso mehr ist England zum Abschluss der Vorrunde am heutigen Montag gegen Kroatien ein gutes Spiel schuldig. Allein, es reicht ihnen ein Unentschieden zum Aufstieg ins Viertelfinale, da weiß man, was man zu befürchten hat. So viele attraktive Partien hat man gerade von den Mittelfeldspielern in ihren Vereinen gesehen, dass daraus der Glaube wuchs, dieses England könne die Welt im Sturm nehmen. Es ist ungeklärt, ob es nur Erikssons konservative Taktik ist, die Gerrard, Lampard und Scholes hemmt, oder ob sie einfach doch nur interessante, aber keine außergewöhnlichen Spieler sind. Diese EM ist ihre Offenbarung. Nun wird sich zeigen, ob all das vorauseilende Lob gerechtfertigt war. RONALD RENG