Koeffizientes Spiel

Trotz eines torlosen Remis gegen Lettland hat die Mannschaft von Teamchef Rudi Völler noch alle Chancen, das Viertelfinale zu erreichen – vorausgesetzt, alle Gruppengegner spielen mit

AUS PORTO MATTI LIESKE

Im abendlichen Zug von Porto nach Lissabon hatten die Fans der deutschen Fußballmannschaft ein neues Lieblingsspiel entdeckt: Szenarien entwerfen, wie das DFB-Team mit der niedrigsten Punktzahl aller Zeiten ins Viertelfinale einziehen könnte – und dann selbstverständlich ins Endspiel, wie einer unter großem allgemeinen Gelächter bemerkte. Der tschechische 3:2-Sieg gegen Holland machte die Sache relativ einfach und eine besonders kuriose Variante möglich: „Wenn wir gegen die Tschechen 2:3 verlieren und Holland gegen Lettland 0:0 spielt, sind wir in allem genau gleich mit den Holländern.“ Und dann zählt der Uefa-Koeffizient, errechnet aus den Qualifikationsergebnissen zur WM 2002 und EM 2004. Und wer ist da besser? Wir erinnern uns: Ohne Holland fuhrn wir zur WM! Mit zwei Pünktlein dank irgendwelcher vor fünf Jahren ergurkter Punkte im Viertelfinale – da würde manch einer aus den anderen Gruppen ziemlich neidisch werden auf eine solch ausgebuffte Turniermannschaft. Nur einen Haken hatte einer der Fans erkannt: „Wer soll bei uns zwei Tore gegen die Tschechen schießen?“

Ansonsten wurde das magere 0:0 des deutschen Teams gegen Lettland kurz zuvor im Estádio Bessa von Porto einigermaßen fatalistisch zur Kenntnis und nicht weiter krumm genommen. Die Analysen der zugfahrenden Fußball-Experten in den schwarzrotgold bestreiften DFB-Trikots deckten sich diesmal auffallend mit denen von Teamchef Rudi Völler und Michael Ballack, mangels Alternative erneut zum besten Spieler des Matches gewählt. Gelobt wurde die solide Abwehrleistung der Letten, ebenso wie das offenkundige Bemühen der deutschen Akteure, den baltischen Catenaccio mit vielfältigen Mitteln zu knacken: Flügelspiel, Kombinationen durch die Mitte, Fernschüsse, Flanken. „Wir haben alles versucht, am Einsatz hat es nicht gefehlt“, sagte Völler und übte sich in Gelassenheit: „Wir haben immer gewusst, dass das dritte Spiel ein Endspiel wird. Nun müssen wir es eben gewinnen.“ Das würde selbst bei einem Sieg der Holländer gegen die Letten zum zweiten Gruppenplatz hinter Tschechien reichen.

Hatten die Deutschen beim 1:1 gegen Holland all das gezeigt, was sie können, so führten sie gegen Lettland die vollständige Palette dessen vor, was sie nicht können. Es fehlen die spielerischen Mittel, um eine dicht gestaffelte Defensive zu überwinden, es fehlt an individueller Klasse. Für schnelle, direkte Kombinationen auf engem Raum sind die technischen Fähigkeiten zu begrenzt, Soloaktionen, welche die gegnerische Abwehr aus den Angeln heben, kann höchstens mal Philipp Lahm, wirklich gute Flanken sind Mangelware, was auch daran liegt, dass es nie gelingt, bis zur Grundlinie durchzubrechen, und schießen kann außer Ballack auch keiner, selbst wenn es Torsten Frings immer wieder versucht. Und gibt es mal per Zufall eine Torchance, dann wird sie großherzig versiebt.

Im deutschen Team sind diese strukturellen Mängel wohlbekannt, weshalb der Zeigefinger des Vorwurfs zielsicher auf den reparabelsten Teil der Misere deutet, die Chancenverwertung. „Wir hatten ein, zwei Möglichkeiten, die muss man dann auch nutzen“, ärgerte sich Ballack, „mehr bekommst du in einem EM-Spiel nicht.“ Teamchef Völler räumt ein, dass die mangelnde Effizienz der Stürmer schon in der Qualifikation ein großes Problem gewesen sei, und er weiß auch, wie dessen Lösung gemeinhin heißt: Michael Ballack. „Für unser Spiel ist es immer sehr wichtig, ihn in Positionen zu bringen, aus denen er Tore machen kann“, sagte der Teamchef, „das hat heute nicht geklappt.“

Ballack war anderweitig beschäftigt. Im DFB-Team hat der Bayern-Spieler jenes Problem, mit dem sich Michel Platini früher bei den Franzosen herumschlagen musste: Entweder er macht das Spiel, dann ist keiner da, der Tore schießt. Oder er versucht, Tore zu schießen, dann ist keiner da, der das Spiel macht. Hauptsächlich Ballacks Übersicht und Ballbehauptung war es zuzuschreiben, dass die Dominanz im Mittelfeld wenigstens ab und zu in gefährliche Aktionen umschlug, meist über Lahm, und die Zahl der Ballverluste und somit der gegnerischen Konter gering blieb. Auch so reichten die Patzer der Abwehr zu drei Gegenangriffen, aus denen selbst ein Team wie Lettland ein Tor macht. Dieses hat immerhin einen Maris Verpakovskis in der Spitze, der „abgeht wie eine Rakete“ (Völler), allein vor Oliver Kahn allerdings auch dem Schlange-Kaninchen-Syndrom verfiel.

„Es liegt gar nicht so sehr am Mittelfeld“, verwahrte sich Ballack gegen den Vorwurf mangelnder Kreativität und Spritzigkeit der von ihm geleiteten Abteilung und ließ gewachsene Bereitschaft zur Übernahme der Chefrolle im Team erkennen, indem er treffsicher die Schwachstellen benannte: „Die Flanken müssen präziser kommen.“ Das ging an die Außenspieler, insbesondere Schneider, Frings, Lahm und den eingewechselten Schweinsteiger. „Wir müssen besser in die Spitze spielen.“

Das ging gegen die Stürmer, welche die Voraussetzungen für derartige Anspiele schaffen und dann etwas daraus machen müssen. Die Variante Kuranyi/Bobic war in dieser Hinsicht genauso wirkungslos wie das spätere Duo Kuranyi/Brdaric oder die Verzweiflungsformation der letzten Minuten, Brdaric/Klose. Dass Letzterer auch noch das Einzige, was er wirklich gut kann, vermasselte und in der Nachspielzeit völlig frei am Tor vorbeiköpfte, passte zum Gesamtbild des deutschen Sturms in jüngerer Zeit. „Hätte der Miro Klose den Kopfball reingemacht, hätte ich mir natürlich auf die Schulter klopfen können“, trauerte Völler der letzten Chance zum unverdienten Sieg nach.

Seine Sturmbesetzung war dann auch das Einzige, was bei den Fans im Intercity nach Lissabon auf echte Ungnade stieß. „Warum nicht Podolski?“, fragten die innovationsfreudigen Völler-Berater, die genau aufgepasst hatten, wer die Tormisere der Engländer gegen die Schweiz beendet hatte. Zwei Tore gegen Tschechien vom rheinischen Geißbock-Rooney, und das ambitionierte Zwei-Punkte-Szenario könnte Wirklichkeit werden.