Revolutionärer Kuhhandel

Die Union triumphiert: Um sie gnädig für andere Reformen zu stimmen, ist die SPD bei der Gesundheitsreform eingeknickt

aus Berlin JENS KÖNIG
und ULRIKE WINKELMANN

Die Unionspolitiker überboten sich gestern früh gegenseitig darin, Erster am Mikrofon zu sein. Kein Wunder, denn sie haben gewonnen. Der „Kompromiss“ zur Gesundheitsreform, mit dem die fast 20-köpfige Allparteienrunde im Morgengrauen den Verhandlungssaal verließ, entspricht fast vollständig den Wünschen von CDU und CSU. Unions-Verhandlungsführer Horst Seehofer (CSU) bezeichnete das vorliegende Papier als „gerechtes, wirksames Paket“, und Unions-Chefin Angela Merkel sagte, die Reform trage „ganz wesentlich die Handschrift der Union“.

Wie sehr Merkel Recht hat, konnte man gestern den weitschweifigen Stellungnahmen von SPD-Generalsekretär Olaf Scholz entnehmen. Scholz genierte sich überhaupt nicht zu betonen, dass es nicht so sehr auf die Details der Einigung ankomme, sondern nur auf die Einigung an sich. „Das ist das Wichtigste“, sagte er und verwies auch gleich auf den tieferen Sinn dieses Satzes: In der Bevölkerung gebe es ein tief sitzendes Bedürfnis nach Kompromissen zwischen den beiden großen Volksparteien. Was bei der Gesundheitsreform gelang, ist, so sagt es der SPD-General, Vorbild für die Rente und die Pflegeversicherung. Die vorgezogene Steuerreform erwähnte er nicht – aber natürlich geht es nicht zuletzt um sie.

Die Grünen können bei dieser großen Kooperation nur mitmachen – und die Zähne zusammenbeißen. Der Parteirat billigte gestern zwar die Pläne zur Gesundheitsreform bei nur einer Gegenstimme (Thüringens Landeschefin Astrid Rothe) und einer Enthaltung (Exparteichefin Claudia Roth). Aber der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer und Fraktionschefin Krista Sager verhehlten nicht, dass sie stark zurückgesteckt hätten.

Symptomatisch für das Kräfteverhältnis in der rot-grünen Koalition und den großzügigen Willen der SPD zum Kompromiss war eine Pattsituation in der Nacht zum Montag nach über acht Stunden Verhandlung. Die Union sagte, ohne eine Privatisierung beim Zahnersatz werde es eine Gesundheitsreform mit ihr nicht geben. Die Grünen hielten dagegen. Die SPD schwankte. Nach Mitternacht dann telefonierte der Kanzler mit CDU-Chefin Angela Merkel – und die beiden verordneten eine Einigung: Erstens kann der Zahnersatz privat versichert werden. Zweitens können Apotheker bis zu drei Filialen betreiben. Die SPD-Führung telefonierte anschließend mit den Grünen-Spitzen, aber bis auf noch ein bisschen mehr Wettbewerb sowie die Verhinderung der vollständigen Zahnersatzprivatisierung war für die Grünen nichts mehr zu holen.

Damit wird also erstmals eine medizinische Leistung aus dem Versorgungskatalog der gesetzlichen Versicherung geschnitten und in die Privatwirtschaft verlegt. Das ist ein Systembruch, der darauf hinauslaufen wird, dass man den sozialen Status der Menschen in absehbarer Zeit durchaus – und anders als von der SPD im Wahlkampf behauptet – an ihren Zähnen ablesen kann. „Natürlich waren wir dagegen“, sagte SPD-Unterhändler Klaus Kirschner gestern zur taz. Aber so hätten es „die im politischen Himmel“ eben entschieden – „da haben wir alle letzten Endes zugestimmt“. Eine Beschränkung der Filialanzahl für Apotheken dagegen bedeutet, dass es in Deutschland so bald keine „Kettenapotheken“ geben wird, die die Pillenpreise senken könnten.

Gleichwohl erklärte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gestern: „Zum Teil ist Revolutionäres passiert.“ Sie verbuchte als ihren Erfolg die Fortbildungsverpflichtung für Ärzte, die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung und die Deckelung der Preise für neue Arzneimittel ohne neuen Nutzen. Diese „Festpreise“ könnten tatsächlich die stetig anwachsenden Arzneimittelkosten dämpfen. Ein Verzicht auf die „Positivliste“ für verschreibungsfähige Medikamente fiel der SPD daher relativ leicht.

Vom Tisch ist auch die SPD-Idee, die hälftige Finanzierung der Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer so zu verschieben, dass das Krankengeld allein von Arbeitnehmern bezahlt wird: Hier passiert bis 2007 gar nichts – und 2006 sind Wahlen. Den Löwenanteil des auf 3 Jahre angelegten 23-Milliarden-Sparpakets zur Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen werden nun die Patienten zahlen (s. rechts). Sollte es in der SPD nicht mehr zu Aufständen kommen, werden die „Eckpunkte“ der Verhandlungsnacht in den nächsten Wochen in einen Gesetzestext verwandelt, über den gleich nach Ende der Sommerpause Anfang September im Bundestag abgestimmt werden kann – mit den Stimmen der ganz großen Kuhhandel-Koalition.