Rudi gibt den Pappkameraden

Zum Halbzeitpfiff erhebt sich das bunte Publikum zum Beifall. Die Sakkos schließen sich schüchtern anDie Orangenen tanzen auf Bänken, küssen und umarmen sich. Die Sakkoträger zünden sich Zigaretten an

AUS DÜSSELDORF LUTZ DEBUS

Hinter einer goldenen Drehtür sitzen Damen in Abendkleidern und Herren mit seidenen Krawatten an Marmortischchen. Die Mitarbeiterinnen im Renaissance-Hotel tragen dazu ein Breitwandlächeln. Im Hotelgarten serviert der Koch Steaks und Medaillons. Im Hintergrund stehen zwölf Bänke und sechs Tische vor einer Großbildleinwand. An den äußeren Bänken tragen die Herren dunkle Sakkos, in der Mitte hat sich ein orangener Menschenpulk gebildet. Auf Zylinderhüten aus Plüsch mit Glöckchen an der Krempe steht das Wort Holland. Die Herren am Rand wirken dagegen wie die grauen Männer aus Michael Endes Momo.

Joachim Depper hat die ungleiche Gesellschaft organisiert. Er ist IT-Manager eines namhaften Mobilfunkanbieters. Die hier von ihm versammelten Mitarbeiter arbeiten an einem gemeinsamen Projekt. Depper will die verschiedenen Abteilungen des Unternehmens auf ein Ziel einschwören. Dazu hat er einen betriebswirtschaftlichen Vortrag parat, der so komplex ist und gespickt mit englischen Vokabeln, dass es schwer fällt, ihn wiederzugeben.

Ungefähr erzählt der Manager also von seinem Arbeitgeber, der sei Teil eines niederländischen Unternehmens und trage deshalb eine Krone im Logo. Die Abteilungen reichen mittlerweile über Ländergrenzen hinweg. Und für diese bilateral zusammengesetzte Projektgruppe biete sich die Übertragung des ersten Spiels beider Länder bei der Fußball-EM als Anlaß für eine Betriebsfeier geradezu an.

Depper setzt auf die völkerverständigende Wirkung des Sportes. Die könne dem multikulturellen Betriebsklima gut tun. Depper selbst hat sich in ein Trikot der Deutschen Nationalmannschaft aus dem Weltmeisterjahr 1954 geworfen, ein Nachbau eines bekannten Lebensmitteldiscounters. „Die Herren am Rande“, erläutert Depper, „das sind die deutschen Mitarbeiter.“ Und das schreiend bunte Treiben in der Mitte sind seine niederländischen Kollegen.

Aber was unterscheidet die beiden Landsleute – abgesehen vom Dresscode? Die einen seien geprägt von einer langen Handelstradition, die anderen mit ganzem Herzen Ingenieure, meint Depper. Deshalb suchen die deutschen Mitarbeiter eher nach Lösungen, die einem hundertprozentigem Anspruch genügen müssen. Alles andere finde schwerlich Akzeptanz. Ein einmal gefasster Entschluss müsse für Jahre Gültigkeit haben. Die niederländischen Mitarbeiter hingegen tendierten zu pragmatischen Lösungen, die wieder verworfen werden können. Schließlich verändere sich der Markt auch täglich. Deppers Nenner: „Bei den Deutschen bedeutet eine Entscheidung üblicherweise das Ende der Diskussion. Bei den Niederländern ist das oft der Beginn einer neuen Diskussion.“ Die Synthese beider Sichtweisen, findet der Düsseldorfer Manager produktiv: Auch ein Unternehmen müsse zugleich spontan und berechenbar sein.

Aber kommt es bei zwei sich so widersprechenden Mentalitäten nicht zu vielen Konflikten? Dies wiederum, meint Depper, verhinderten die nach Konsens suchenden Nachbarn aus dem Nordwesten: „Niederländer suchen bei Verhandlungen nach einer Lösung, bei der am Ende alle Beteiligten vom Tisch aufstehen können und eine positive Bilanz ziehen.“ Ein einfacher Satz verhindere oft den Gesichtsverlust des Gegenübers: „Ich verstehe, dass dir Deine Meinung so wichtig ist.“ Und wenn sich die Stimmung doch erhitzt, wechseln Niederländer einfach das Thema, reden über Fußball.

Keine Probleme also zwischen den Käsköppen und Sauerkrauts? Im Streitfall einfach über Fußball reden?

Kaum zu glauben: Seit dem WM-Endspiel 1974 beherrschen Niederländer das deutsche Wort „Schwalbe“. Auch die Spuckattacke gegen Rudi Völler bleibt ein Thema zwischen den Nationen. Die Mär davon, dass manche Holländer deutsche Touristen nicht bedienen und dies damit begründen, dass diese zunächst die während der Besatzung beschlagnahmten Fahrräder rausrücken sollen, stand in jeder Zeitung.

Doch über tatsächlich erlittenes Unrecht während der Besatzung wollen die niederländischen Mitarbeiter hier nicht berichten. Warum? Scham? Wunsch nach Harmonie? Zu lange her? Akademiker treffen beim Fußball-Betriebsfest aufeinander, die ihre kulturellen Konflikte nicht lösen wie Fußballrowdies.

Die Übertragung beginnt. Die Orangenen erheben sich von den Bänken, lüften die Plüschzylinder und schmettern die Nationalhymne. Im Anschluss intoniert die Stadionkapelle dann das Lied der Deutschen. Am Fernsehschirm bewegen Nationalspieler in weißen Trikots zuweilen passend rhythmisch ihre Unterkiefer. Die deutschen Fernsehzuschauer auf den Bänken zünden sich Zigaretten an. Alle Strophen dieses Liedes waren schon tabu, vor 1945 die dritte, danach die ersten beiden – da fällt Mitsingen schwer.

Immerhin steht der deutsche Teamchef im Hotelpark direkt neben dem Plasmabildschirm und macht Werbung für den Mobilfunkbetreiber. Irgend jemand hat den Pappkameraden mit orangenen Sprühluftschlangen verziert.

Dann der Anpfiff. Auf dem Spielfeld wird gerempelt und gepöbelt. Gelbe Karten, Eckbälle, Freistöße. Die Tische im Hotelgarten füllen sich mit leeren Heineken-Flaschen. Matjes-Häppchen werden vertilgt, die Holzspieße mit blau-weiß-roten Fähnchen, auf denen der rohe Fisch serviert wurde, werden beschwörend in den Styroporkopf von Rudi Völler gepiekst. Doch es hilft nichts. Torsten Frings flankt den Ball in den Strafraum. Irgendwie prallt der Ball ins königliche Netz. 1:0 für Deutschland. Aus den Kehlen der Herren im Sakko dringt ein knappes “Ooooaaah“, man könnte es auch als „Tooooaaaar“ gelten lassen. Dann schauen alle wieder auf das Fernsehbild, die Orangenen allerdings mit leicht wässrigem Blick. Zum Halbzeitpfiff erhebt sich das bunte Publikum, zollt den Spielern im fernen Porto Beifall. Die Sakkos schließen sich schüchtern an.

Rik Bijmholt ist der niederländische Teil der Projektleitung. Von seinem Kollegen wurde ihm die taz als „extreme left german daily newspaper“ vorgestellt. Und was schätzt er an den deutschen Kollegen? „Sie arbeiten hart, sehr hart.“ Schmunzelnd setzt er hinzu: „So wie wir.“ Aber gibt es nicht auch Unterschiede? Die hierarchischen Strukturen in den Niederlanden seien sehr viel flacher: „In Deutschland ist die Distanz zwischen Mitarbeitern und Geschäftsführung viel größer. Auch in der niederländischen Fußballmannschaft gibt es weniger Hierarchie als in der deutschen. Hoffentlich zahlt sich das in der zweiten Halbzeit aus“, betet Bijmholt.

Auch in der zweiten Hälfte wird auf dem Spielfeld geballert, gerempelt und gepöbelt. Schließlich kann Stürmerstar Ruud van Nistelrooy im Fallen ausgleichen. Diesmal kein knapper Aufschrei im Rennaissance-Hotel, die letzten zehn Spielminuten gehen im Partylärm unter. Orangene Menschen stehen auf ihren Bänken, tanzen, singen, küssen und umarmen sich. Die Sakkoträger zünden sich Zigaretten an.

Im Abspann der Fernsehübertragung wird ein recht gelöster deutscher Teamchef gezeigt. Und alle auf der Betriebsfeier rufen freudig “Ruuuudiiii!“. Mit dem holländischen Klang in dem Wort hätte es auch einem alternden niederländischen Komiker gelten können. Die Völkerverständigung hat wohl funktioniert, denn letztlich sind Niederländer wie Deutsche in diesen Tagen alle ein bisschen „Ruuuudiiii!“.