berliner szenenDer Lemming-Traum

Kleiner Knetmann

Es muss brennen. Mit dieser Erwartung auf einen Klick im Kopf starten die meisten Nächte. Kopf, Milz und Seele sind hungrig, wollen was sehen, fühlen, erleben, was neu ist oder zumindest genauso gut wie das letzte Mal. Warten, bis es spät genug ist, loszugehen, anstehen, reinkommen, da sein, hallo sagen. Dann erledigt den Rest der Bass.

Das ist der schöne Lemming-Traum vom Glück der Nacht. Auf der Klippe, von der man springen wollte, sieht es dann schon anders aus. Noch nicht mal vier Uhr, im Watergate, dem zur Zeit spannendsten Club der Stadt. Unten an der Scheibe, kurz überm Wasser sitzt ein Junge. Alle haben ihn schon gesehen. Vorher beim Tanzen, das nur noch Schlingern war.

Kopf eingezogen, Hände hochgezogen wie ein Boxer, aber lahm, schwach in der Haltung. Torkelnd zwischen dem gestrafften Spaß der anderen. Jetzt sitzt er. Seine Arme schwimmen. Fahren ins Gesicht. Finden keinen Halt. Rutschen weg. Berühren den Boden. Der Oberkörper schwankt, kippt nach vorne. Rudert. Fällt doch nicht vom Hocker. Das Bein rutscht weg. Die anderen schauen besorgt, lachen doch lieber. Lieb warm hier unten im Glashaus. Seine Hand hastet nach dem Bier, das irgendwo steht. Es steht nirgendwo. Er verliert das Gleichgewicht endgültig. Sitzt auf dem Boden. Erschrickt. Die Augen gehen auf. Einer will ihm helfen. Zwei Hände reichen nicht, sein Körper fließt weg. Kleiner Knetmann, steh doch auf. Nein, dann bleib halt sitzen. Schließ die Augen und träum dich zum Engel. Morgen ist alles vorbei, du weißt nichts mehr. Am Abend kickt der Hunger neu. Die andern tanzen weiter, tratschen, lachen, ziehen, schlucken. Hast du, willst du, kannst du? Hey, wie schön. Es ist noch Zeit. HENNING KOBER