Mozarts Triebwerk

Der Skandal der Aufklärung: Calixto Bieito hat an der Komischen Oper Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ neu inszeniert. Weil er die Musik immer und den Text manchmal wörtlich nimmt, gab es lautstarken Protest

Wolfgang Amadeus Mozart und der Marquis de Sade waren Zeitgenossen, doch diese historische Nähe passt schlecht zu dem populären Bild des überirdischen Meisters reiner Schönheit, das bis heute jede tiefere Einsicht in die Musik Mozarts überlebt hat. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat an der Komischen Oper schockierend radikale Konsequenzen daraus gezogen. Wir sind im Puff, zwei Zuhälter geben sich sadistischen Exzessen hin, ständig wird irgendwo gevögelt und gepeitscht und mit Pistolen herumgefuchtelt. Die berühmte Strophe des originalen Haremswächters Osmin ist in Laufschrift am Bühnenportal zu lesen: „geköpft, gehangen, aufgespießt, verbrannt, gebunden, getaucht, geschunden“ sollen sie werden. Als aber Jens Larsen in dieser Rolle nun wirklich eine der Nutten am Bühnenrand aufschlitzt, verlassen unter lautem Protest ein gutes Duzend schockierte Premierengäste den Saal. Haben sie sonst immer weggehört? Osmins Arie gehört zum festen Bestand jedes Klassiksenders.

Ein reines Sonntagsvergnügen allerdings ist diese Inszenierung nun wirklich nicht. Ausgerechnet dieses volkstümlich schwankhafte, gelegentlich sogar oberflächlich klingende Werk entwickelt eine geradezu aristotelische Katharsis, einen im Augenblick der Aufführung kaum zu ertragenden Ausbruch wüster Leidenschaften aus den dunkelsten Kammern des Triebwerks der menschlichen Seele. Danach, so hatte Aristoteles bekanntlich gedacht, atmen wir tief durch und fragen uns, ob wir wirklich so sind.

Ja, so sind wir auch. Für Aristoteles wie für de Sade stand das außer Zweifel. Warum sollte der große Musikdramatiker Mozart anders gedacht haben? Den Text zum Singspiel für das Wiener Burgtheater hat er nicht geschrieben. Zwei Mädchen sind gefangen im Harem eines gewissen Bassa Selim, der sich am Ende als großer Freund der Aufklärung entpuppt. Er gibt die beiden frei und ihren durchaus irdischen Liebhabern zurück. Der Chor besingt die Güte des Muselmanen: Auch das wäre eine tagespolitische Pointe, aber Bieito traut Mozart mehr zu als ein bloß politisch korrektes Statement.

Der Bassa Selim ist ohnehin eine reine Sprechrolle, am Ende wird er hier einfach erschossen von ebenjener Konstanze, die ihren Peiniger lieben soll. Er verlangt es so, und weil sie das sehr wohl versteht, klingt in Maria Bengtssons wunderschön gesungenen Paradearien eine Sehnsucht nach einem reinen, bedingungslosen Gefühl mit, das hier jedoch nur den nächsten Gewaltakt provoziert. Denn Bieito hat Mozart sehr genau zugehört und entdeckt, dass diese fröhliche Spielmusik nur ein Uhrwerk ist, das immer neue Ohrenreize erzeugen muss. Sein Takt ist unerbittlich und treibt zum exakt terminierten Höhepunkt des Quartetts am Ende des zweiten Aktes zu: Kaum haben die beiden Paare sich wieder, zerbricht die Illusion dieses Glücks. Sie zerbricht in den polyphonen Verschränkungen des Satzes, die nur noch Misstrauen, Angst und Schrecken vor der Lust des anderen aufklingen lassen.

Sind wir so, wenn wir lieben? Man muss Bieito danken dafür, dass er die Frage so stellt. Bewundern muss man ihn dafür, dass er sie auch inszenieren kann, wenn auch nicht immer gleich gut. Ein wenig missionarisch ist er schon und verlässt sich dann doch oft lieber auf das Theater als auf den Gesang. Singen können sie diesen Mozart alle, manchmal sogar ausgezeichnet, nur müssen sie dazu ständig irgendetwas zeigen, sich verhauen oder mindestens fesseln lassen. Das schadet der musikalischen Konzentration.

Erst gegen Ende lässt dieser theatralische Übereifer nach. Die Schreckensbilder beginnen zu gefrieren. In ihrem großen Duett zu Beginn des dritten Aktes etwa haben Finnur Bjarnson als Belmote und Maria Bengtsson endlich Zeit, in aller Ruhe auszusingen, was unter der sehr dünnen Haut des Wohlklangs lauert: Liebesglück und Tod sind dasselbe. Dann erscheint die katalanische Bühnenorgie überhaupt nicht mehr skandalös.

Mozart und de Sade waren nun mal Zeitgenossen, auch den Aufklärer Bassa Selim gibt es nicht ohne seinen Gegenspieler. Nur beides zusammen ist die ganze Aufklärung und der ganze Mozart: anhaltender, verdienter Applaus einer deutlichen Mehrheit des Premierenpublikums.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Komische Oper, 23./ 29. Juni + 2. Juli um 19 Uhr, 27. Juni + 11. Juli um 18 Uhr