lost in lusitanien
: Minimalerfolg folgt Maximaleruption

MATTI LIESKE wundert sich, wie abrupt aus einem Volk von Zombies eine Horde erleuchteter Fußballfans werden kann

Ein leichter Dunst liegt über dem Tejo, einige ungewohnte Wölkchen schieben sich gelegentlich vor die morgendliche Sonne, dennoch scheint der Himmel zu strahlen in Lissabon am Tag danach. Die Vögel zwitschern unaufhörlich mit großer Begeisterung vor sich hin, und man meint, die Aufstellung der portugiesischen Nationalmannschaft herauszuhören. Die Fliegen führen kleine Tänze auf, die Katzen komponieren schnurrende Oden an die Freude, die Hunde bellen die Nationalhymne und üben heimlich Fallrückzieher. Und die Menschen? Sie leuchten von innen heraus, als sei ihnen letzte Nacht kollektiv die Heilige Jungfrau erschienen. Nach dem Wunder von Fatima hat das Land jetzt das Wunder von Alvalade – und es ist, als sei ganz Portugal mit dem 1:0 gegen Spanien, das den Einzug ins Viertelfinale bedeutet, aus einem bösen Traum erwacht. Dieser hatte eine Woche zuvor begonnen, als der fiese Hexerich Otto Rehhagel mit seinen Griechen die Gastgeber dieser Europameisterschaft mit einem Bann belegte und alle Begeisterung im Keim erstickte.

Die Heftigkeit, mit der sich die Freude über die fußballerische Wiedergeburt am Sonntagabend in der Innenstadt Bahn brach, die unzähligen Autos, aus denen Fahnen und Oberkörper hingen, die bis zum Fingerbruch traktierten Hupen, die sich gegenseitig um den Hals fallenden Menschen in der U-Bahn und auf den Plätzen, die fröhlichen „Portugal“-Gesänge allenthalben zeigten, wie wenig die grundlegend pessimistisch ausgerichteten Portugiesen noch an den Erfolg ihrer Mannschaft geglaubt hatten. Wo waren diese Leute eigentlich während der letzten Woche?, fragte man sich angesichts der Mengen, die sich nun durch die Straßen drängten und deren Jubelstimmung nur dadurch leicht getrübt wurde, dass die Bars und Restaurants im Zentrum humorlos und konsequent ihre EM-Strategie durchzogen, um elf die Läden dichtzumachen. Zahlreiche Fans schienen das allerdings geahnt zu haben und hatten die wenige Zeit zwischen Spiel und Sperrstunde zu einem Sturztrunk irischer Art, wenn die „Last Orders“ in den Pubs ausgerufen werden, genutzt.

In den Tagen zuvor hatten in Lissabon Engländer, Deutsche, Schweden, Dänen, Kroaten und Russen das Stadtbild bestimmt, die portugiesische Fußballbegeisterung hatte sich ausschließlich in den rot-grünen Fahnen manifestiert, die hartnäckig aus Fenstern hingen und an Autos flatterten. Der Schock des 1:2 im Eröffnungsspiel gegen Griechenland hatte die Fans zu Zombies mutieren lassen, analog zu den Spielern der Seleçao, von denen einige zuvor auf dem Platz den Eindruck erweckt hatten, sie würden eher in den Film „Dawn of the Dead“ passen als auf den Fußballplatz. Der Sieg gegen Russland hatte einen Abend lang für Begeisterung gesorgt und eine kurzes Auftauchen aus der mentalen Lethargie bewirkt, doch noch immer musste man ja das letzte Match gewinnen, ausgerechnet gegen Spanien, den Nachbarn, den man seit 23 Jahren nicht mehr besiegt hatte. So richtig glaubte niemand an ein gutes Ende, obwohl auch die Spanier beim 1:1 gegen Griechenland Schwächen gezeigt hatten, und bis zum Schlusspfiff der hochdramatischen Partie, den Schiedsrichter Frisk mit sadistischer Genüsslichkeit hinauszögerte, wagte keiner im Estádio Alvalade tatsächlich anzunehmen, dass das eine Tor von Nuno Gomes in der 57. Minute reichen würde. Umso stärker die Eruption, als es geschafft war, völlig nebensächlich, dass der Einzug ins Viertelfinale vor dem Turnier das absolute Minimalziel gewesen war. Jetzt wurde er gefeiert wie ein Titelgewinn.

Trotz aller Depressionen und düsteren Vorahnungen hatten die Fans alles in ihrer Macht Stehende getan, um zum Erfolg des Teams beizutragen. Jatten jeden Versuch des ansehnlichen spanischen Kontingents im Stadion, sich Gehör zu verschaffen, mit einem akustischen Orkan gestoppt, die Nationalhymne („Zu den Waffen, zu den Waffen, kämpft für euer Vaterland“) aus 50.000 Kehlen mit Inbrunst gesungen, und auch sonst die Mannschaft immer unterstützt, wie Trainer Felipe Scolari betonte. Als wolle er zum Lula von Lissabon werden, bedankte sich der nach dem Griechen-Spiel in starke Kritik geratene Trainer immer wieder überschwänglich für die Sympathiebekundungen der Menschen; wohl nie zuvor hat ein Brasilianer derart häufig „das portugiesische Volk“ beschworen. Fehlte eigentlich bloß noch, dass er den alten Slogan aus dem Nelkenrevolutionssommer 1975 ausgrub: „El pueblo unido jamás será vencido.“ Das einige Volk wird niemals besiegt werden.

So ähnlich sagte er es als versierter Populist dann tatsächlich: „Meine Mission ist noch nicht beendet. Ich habe dem portugiesischen Volk ein Versprechen gegeben.“ Ob ihn die Situation an die WM 2002 erinnere, wurde Scolari noch gefragt. Damals in Brasilien wurde er ebenfalls heftig kritisiert und dann Weltmeister. „Alles genauso“, lautete die Antwort, „und von mir aus kann es bis zum Ende so bleiben.“