BERNHARD PÖTTER über Kinder
: Flatternde Fähnchen im Wind

So verwerflich Opportunismus auch sein mag – ein schneller Seitenwechsel ist manchmal lebenswichtig

Meinetwegen: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Und schafft deshalb in Gestalt der gemeinen Weinbergschnecke in zwei Jahren eine Strecke von 70 Kilometern. Das wäre dann auch exakt die Entfernung zwischen Oliver Kahn und Zinedine Zidane. Denn noch bei der Fußball-WM in Japan und Korea vor zwei Jahren war Jonas ein glühender Bewunderer des deutschen Torwart-Berserkers. Letzte Woche dagegen nahm er Anlauf, rutschte aus vollem Lauf unseren Flur auf den Knien entlang, streckte die Arme zum Himmel und schrie: „Sinediiiin Sidann!“

Vielleicht hat der Sinneswandel meines Erstgeborenen auch mit Kahns Privatleben zu tun. Letztens fragte Jonas: „Warum hat Oli Kahn eigentlich seine Frau entlassen?“

Jedenfalls zeigt die Neuorientierung in seiner fußballerischen Wertschätzung, dass der Charakter meines Sohnes in den zwei Jahren zwischen WM und EM enorme Fortschritte gemacht hat. Das heißt aber auch: Der moralische Imperativ für seine Existenz als Fußball-Fan hat stark nachgelassen.

Beweis: Eröffnungsspiel der Fußball-EM. „Ich bin für die Roten“, sagte Jonas. Bis er erfuhr, dass Griechenland führte. Und führte. Und führte. Und plötzlich sagte er: „Die Weißen sollen gewinnen“.

Leider kein Einzelfall. Mitten in der letzten Saison saßen Jonas und sein Freund Karl, erklärte und fanatische Wolfsburg-Fans, vor der „Sportschau“. Wolfsburg gegen Dortmund. „Wölfe, Wölfe!“, tönte es vom Sofa. Beim Stand von 0:3 erklärten plötzlich beide: Ich bin für Dortmund. Ich war erschüttert. Heißt es sonst nicht: Eisern Union? Oder „Wir sind Schalker und ihr nicht?“

„Sie wollen halt auf der Seite der Gewinner stehen“, sagte Anna, als ich sie auf ihren prinzipienlosen Sohn hinwies. Ein guter Grund. Warum sonst wäre jemand Bayern-Fan; warum sonst würde jemand Geld für die FDP spenden; warum sonst schreiben kluge Leute die Reden von Jürgen Schrempp? Aber seine Weltanschauung so schnell nach dem herrschenden Wind auszurichten – das ist doch Verrat an allen Idealen.

Aber warum eigentlich? Opportunismus ist schließlich die erfolgreichste Überlebensstrategie, die wir so haben. Ob es den Bären in seiner Ehre kränkt, wenn er statt Lachsen nur verfaulte Kadaver zu fressen bekommt? Hat ein Fernsehsender einen Rest von Stolz, wenn er ein erfolgreiches Sendeformat („Wer – außer Günther Jauch – wird Millionär?“) abkupfert? Lehnen es Asiaten aus sprichwörtlichem Stolz ab, erfolgreiche Produkte zu kopieren? Gerade für Kinder und andere abhängig Beschäftigte ist es wichtig, die eigene Meinung mit den Ansichten des Chefs zu synchronisieren.

Das moralische Dilemma wird komplett, wenn die Opportunisten auch noch das Richtige tun. Was passiert, wenn die Erfolgreichen zufällig auch noch die Guten sind? Wenn man mit erneuerbaren Energien Geld verdienen kann? Wenn der Einsatz für Menschenrechte zu einem gut bezahlten Job verhilft? Darf man dann der Mehrheit hinterherrennen? Muss man das eventuell sogar tun? Ist Opportunismus, so schändlich, ehrvergessen und gewissenlos er sein mag, in Ordnung, wenn er in die richtige Richtung zielt?

Ohne dass er es weiß, steht Jonas vor genau dieser Frage. Das heißt, er sitzt vor dem Fernseher und bewundert Zidanes Freistoß zum 1:1 gegen England. Vor zwei Jahren brachte ihm die Bewunderung für Oli Kahn zwar nicht zu den Guten, aber immerhin zu den Erfolgreichen. Kahn wurde Vizeweltmeister. Zidanes Equipe schoss nicht mal ein lausiges Tor und flog nach der Vorrunde aus dem Turnier. Jetzt haben die Franzosen wieder ein gutes Turnier vor sich – und aus völlig anderen Motiven ist Jonas nun auf ihrer Seite.

Nein, es kann kein Verrat sein, wenn die Menschheit eine höhere Form der Existenz erklimmt. Schließlich vertritt auch ganz offiziell der Staat das Opportunitätsprinzip – die Polizei kann eingreifen, wenn es ihr gerade in den Kram passt. Und nicht umsonst nennen sich die USA, die Experten in Sachen „Sieger der Weltgeschichte“ – genau: „Land of Opportunity“.