Abschied vom Hinterzimmer

Die europäischen Parteien werden künftig endlich mehr Einfluss bekommen. Sie sollten ihn nutzen, um die EU-Strukturen möglichst bald offener und demokratischer zu machen

Europäische Parteiprogramme müssen her, die über freund-liche proeuropäische Formeln hinausgehen

Die Entscheidungssuche hinter verschlossenen Türen war nicht erfolgreich. Das ist sie nie. Am Ende eines Gipfels sind alle entweder übernächtigt und ein bisschen enttäuscht über den erzielten Kompromiss oder ausgeschlafen und völlig frustriert, weil die Veranstaltung ohne Ergebnis abgebrochen wird. Mit dieser Methode findet man vielleicht gute Päpste – gute Verfassungen und gute Kommissionspräsidenten findet man nicht.

Am Rande des wenig erfreulichen Spektakels war aber die Generalprobe für ein ganz neues, vielleicht zukunftsweisendes Rollenspiel zu beobachten. Vor den Toren der Stadt hatten die Vertreter der konservativen Parteien sich getroffen, um das Ergebnis der Europawahl auszuwerten und ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen: Dieses Mal müsse der neue Kommissionspräsident aus derjenigen politischen Familie stammen, die die meisten Wähler hinter sich versammeln kann – das ist die Europäische Volkspartei (EVP), zu der auch die CDU gehört.

Zugegeben, dieser Auftritt war kein voller Erfolg. Zu spontan wirkte die Aktion, zu wenig motiviert für den Job ist Chris Patten, der in einer Nachtaktion gekürte Kandidat. Doch der Fortschritt im Vergleich zur Kandidatenschau vor fünf Jahren ist deutlich sichtbar. Auch damals forderte die EVP als stärkste Kraft im Parlament, dass sich der Wählerwille in der Zusammensetzung der Kommission niederschlagen müsse. Doch die Regierungschefs gingen mit einem Achselzucken darüber hinweg. Seither hat sich viel getan. Die informellen europäischen Treffen der politischen Familien mausern sich allmählich zu Parteitagen. Seit drei Jahren gibt es ein europäisches Parteienstatut, das zum Beispiel Haushaltsregeln für europäische Dachverbände festlegt. Damit ist das Schattendasein beendet. Zuvor wurden die Europatreffen nämlich in einer rechtlichen Grauzone mit öffentlichen Mitteln aus den Fraktionsbudgets im Europaparlament bestritten.

Nur im öffentlichen Bewusstsein der Wähler haben sich die europäischen Parteien noch keinen Platz geschaffen. Das liegt vor allem an den politischen Akteuren selbst, die dafür sorgen, dass nach wie vor nationale Reflexe die meisten Themenfelder bestimmen. Die deutsche CDU-Vorsitzende Angela Merkel und der deutsche EVP-Vorsitzende im Europaparlament, Hans-Gert Pöttering, hatten Chris Patten ja vor allem deshalb im Eilverfahren auf den Schild gehoben, weil sie Gerhard Schröder eins auswischen und seinen liberalen Favoriten Guy Verhofstadt um jeden Preis verhindern wollten.

Der Aufstand war weder gut vorbereitet, noch waren die Wähler im Wahlkampf auf einen überzeugenden konservativen Kandidaten eingestimmt worden – und transparent war die Nacht-und Nebel-Aktion ganz sicher auch nicht. Aber sie hat doch gezeigt, dass sich ein neuer Faktor herausbildet im Kräftespiel der europäischen Politik. Schon im Entscheidungsprozess des Konvents zur Verfassungsreform hatten die europäischen Parteien kräftig mitgemischt. Die politischen Familien in der Versammlung hatten die Entscheidungen zum Teil mehr beeinflussen können als verbündete Regierungsvertreter.

Als die Außenminister und Regierungschefs die Sache dann im letzten Sommer in der Regierungskonferenz an sich zogen, saßen immerhin noch zwei Parlamentsvertreter bei den meisten Beratungen dabei. Klaus Hänsch (SPD) und Elmar Brok (CDU), die beide schon mehrere Vertragsreformen mit verhandelt haben, berichteten übereinstimmend, sie seien als gleichberechtigte Partner behandelt worden. In früheren Reformrunden seien sie dagegen von wichtigen Informationen und entscheidenden Sitzungen ausgeschlossen gewesen.

Den im Herbst antretenden Kommissionspräsidenten werden die Chefs sicherlich noch einmal im Konklave-Verfahren ernennen. Voraussichtlich am 30. Juni soll es dazu in Brüssel einen Sondergipfel geben. Doch in fünf Jahren, wenn es wieder so weit ist, muss die Sache anders ablaufen. Die Parteien sollten ihren neuen Spielraum nutzen, damit es dann endlich demokratischer und offener zugeht. Die gerade beschlossene Verfassung sieht schließlich vor, dass der nächste Kommissionspräsident von der Mehrheit des Parlaments gewählt wird.

Gleich nach der Sommerpause sollten die Parteien damit beginnen, sich auf die neue wichtigere Rolle vorzubereiten. Europäische Parteiprogramme müssen geschrieben werden, die über freundliche proeuropäische oder wütende antieuropäische Formeln hinausgehen. Die Parteien müssen deutlich sagen, was sie mit der Macht, die ihnen der Wähler bei der nächsten Europawahl überträgt, anfangen wollen. Die deutschen Grünen haben das in diesem Wahlkampf bereits in Ansätzen vorgemacht. Die grünen Wähler in Deutschland wussten es zu schätzen.

Angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung in ganz Europa und der Niederlagen, die viele proeuropäische Parteien mit innenpolitisch orientierten Wahlkampagnen erlitten, wäre es auch für andere an der Zeit, etwas Neues zu versuchen. Themen, bei denen das Parlament mitzureden hat, gibt es genug: Soll der Akzent zum Beispiel auf hohen Umweltstandards liegen, oder sollen günstige Standortbedingungen für die europäische Industrie künftig schwerer wiegen? Wie halten wir es also mit dem Sonntagsfahrverbot, der Chemierichtlinie oder den Transporten lebender Tiere?

Die Parteien haben deutlich zu sagen, was sie mit ihrer Macht im EU-Parlament anfangen wollen

Aufgabe der europäischen Parteien müsste es auch sein, ihre Wähler mit den Kandidaten für die Topjobs vertraut zu machen. Es genügt nicht, wenn sich nationale Spitzenpolitiker – wie zum Beispiel Guy Verhofstadt für die flämischen Liberalen – als Lockvögel auf Spitzenplätze ihrer jeweiligen Europaliste setzen lassen. Die Wähler durchschauen den Etikettenschwindel und wissen ganz genau, dass der belgische Regierungschef seinen derzeitigen Platz nicht mit einem liberalen Sitz im Europaparlament vertauschen wird. Wenn Verhofstadt aber überall in Europa als Favorit der Liberalen für den Posten des Kommissionspräsidenten plakatiert worden wäre, sähe die Sache ganz anders aus. Dann könnten die Liberalen ein gutes Wahlergebnis als Zustimmung zu diesem Personalvorschlag interpretieren. Auf dieser Grundlage könnten sie im Parlament um eine Mehrheit werben und Verhofstadt gemeinsam mit Grünen, Sozialisten und einigen linksliberalen Abweichlern der EVP zum Kommissionspräsidenten küren.

Denn die EVP ist zwar stärkste Kraft im neuen Parlament. Die Mehrheit aber hat sie damit noch lange nicht. Wenn sie einen Kandidaten durchbringen will, genügt es nicht, in einem mittelalterlichen Schloss vor den Toren Brüssels die konservativen Regierungschefs darauf einzuschwören. Stattdessen sollte auch die EVP im Wahlkampf die Öffentlichkeit mit ihrem Personalvorschlag vertraut machen und sich rechtzeitig um Unterstützung bei anderen Parteien bemühen. Genau so, wie man es zu Hause bei der Wahl eines Präsidenten oder Kanzlers eben auch machen würde.

DANIELA WEINGÄRTNER