Das neue Rigorosum

Eineinhalb Jahre nach dem Installieren von Fristen ins Hochschulgesetz hat sich nichts verbessert. Forscher blicken voller Wut und Scham auf die Politik

aus Berlin CHRISTIAN FÜLLER

Es ist das neue deutsche Rigorosum. Die Fragen sind nicht schwer, dafür umso penibler zu beantworten. Die Bewerber brüten über einem amtlichen Formblatt. Es sind Hochqualifizierte, Wissenschaftler auf dem Weg zur Habilitation. Nun empfinden sie Pein, Scham, manchmal Wut. Denn die Fragen zur lücklenlosen Erfassung ihrer Wissenschaftskarriere können sie in den Ruin treiben. Mit Mitte 30. Sie fällen das Urteil, wann Schluss ist mit Erkenntnissuche.

„Es herrscht reine Willkür“, findet Corinna Laude. Sie sitzt an ihrer Habilitation in Altgermanistik und vertritt gerade einen Kollegen auf einer C-1-Stelle. Als die 35-Jährige ihren Vertrag an der RWTH Aachen verlängern wollte, lernte sie das Papier kennen. Laude hatte Glück. Die Aachener Personalbearbeiter setzten als Datum ihrer Doktorarbeit die Überreichung der Urkunde im August 2002 an. Genauso gut hätte es, wie an anderen Unis praktiziert, der Tag der „wissenschaftlichen Aussprache“ im Oktober 2000 sein können. Zwei Jahre Differenz. „Für Außenstehende klingt das wie ein belangloses Detail“, ärgert sich Laude. „Für die weitere Karriere des Forschers kann es existenziell sein, wann der Termin der Doktorarbeit festgesetzt wird.“ Der vermeintlich lückenlos dokumentierte wissenschaftliche Werdegang – ein Zufallsprodukt.

Das neue Formblatt setzen inzwischen alle Hochschulen und Forschungsinstitute ein. Sie reagieren damit auf die neue Ära in der Wissenschaft, die der Bundestag vor eineinhalb Jahren einläuten wollte. Damals schrieb er die Juniorprofessur in das Hochschulrahmengesetz, als Expresszug Richtung Lehrstuhl. Dabei begrenzte der Gesetzgeber zugleich die Zeit des bisherigen Qualifikationswegs über Dissertation und Habilitation auf 12 Jahre. Länger darf niemand auf Friststellen forschen.

Schon als die Neuregelung in Kraft trat, war ein Sturm der Entrüstung losgebrochen. Eine Habilitanden-Initiative namens „lost generation“ gründete sich. Sie befürchtete, dass das Hochschulrahmengesetz (HRG) eine ganze Wissenschaftlergeneration in die Arbeitslosigkeit drängen würde. An dieser Einschätzung hat sich bis heute wenig geändert. Nur dass die Betroffenen, von manchen melancholisch 12-Ender genannt, inzwischen noch nervöser geworden sind.

Was den Habilitanden so an den Nerven zehrt, ist die Umwertung ihrer Existenz. „Irgendwann kriege ich ein Professur“, ist sich einer von ihnen sicher. Und im gleichen Moment, da der 36-Jährige das ausspricht, weiß er: Das galt, vielleicht, für die alte Situation. Ausgerechnet jetzt aber, wo zum Kampf um die Karriere die Verantwortung für die Familie hinzugekommen ist, verliert die Selbstgewissheit an Kraft. „Mein Frau erwartet gerade ihr zweites Kind, die kann uns frühestens in zwei Jahren finanzieren“, erklärt er. Mit seiner Habilitationsschrift droht ihm im Frühjahr das Karriereende.

Die Umstellung geht den Habilitanden zu schnell. In fast keinem anderen Berufsfeld, so argumentieren sie, muss man die Karriere so langfristig vorplanen wie in der Wissenschaft. Der Gesetzgeber aber hat schnell umgesteuert. „Wir wurden hoppla-hopp vor eine völlig neue Situation gestellt“, ärgert sich einer, der an seiner Habil in Politikwissenschaft sitzt. Der Mann ist jetzt 37. „Wir sind so weit fortgeschritten“, sagt er, „dass wir keine Chance haben umzukehren.“ Ein Historiker formuliert es härter: „Man kann doch jemandem nicht mittendrin mit so einer Regelung in den Rücken fallen.“

Kein Wunder, dass mancher Habil-Kandidat der Jahre 2003/2004 eine bittere Bilanz zieht. „Wir sind die Sparschweine der Uni-Landschaft“, sagt ein Berliner Germanist. Und der Historiker empört sich, „dass wir praktisch mit einem Berufsverbot belegt werden“. Wer sich jahrelang spezialisiert habe, „der kann doch nicht einfach kündigen und was anderes machen.“

In den Personalabteilungen der Hochschulen sieht man das ganz anders. Nein, sagen die befragten Personalmanager, das neue Gesetz verbessere die alte Situation. Klar, es bringe Härten mit sich, gesteht die Personalchefin der Ruhr-Universität Bochum, Gabriele Frohnhaus. „Aber das war doch früher auch schon so, dass Habilitierte in ganz schwierige Situationen geraten konnten. Nur kamen diese Leute früher mit Mitte 40. Heute sind sie zehn Jahre jünger.“

Die Idee des HRG bestehe ja gerade darin, eine Wegscheide zu errichten. Den jungen und den nicht mehr ganz so jungen Menschen soll früher klar werden: Wohin wollte ich? Bin ich hier noch richtig? Habe ich die Exzellenz für die Wissenschaft?

Über diese Fragen wird an der Georg-Augusta-Universität Göttingen neuerdings offen geredet. „Wir setzen uns mit allen zusammen, die in gefährliche Zeiten kommen“, berichtet Marina Frost. Die Vizepräsidentin der Uni Göttingen meint damit die jungen Forscher genau wie deren betreuende Profs.

Marina Frost leitet die Arbeitsgruppe Dienst- und Tarifrecht der Universitätskanzler. Ein Missverständnis zwischen den Intentionen des Gesetzgebers und der Praxis der Personalstellen der Unis – der Schlager des HRG-kritischen Feuilletons – kann sie nicht erkennen. Beide Seiten, so die Dienstrechtsexpertin, wollten das Gleiche: die Phase der wissenschaftlichen Qualifizierung begrenzen. Den wütenden Einwand der Habilitanden, die Befristung setze die Forschergeneration der 35- bis 45-Jährigen auf die Straße, lässt die ehemalige Richterin nicht gelten. „Es ist heute nicht schwerer, Professor zu werden.“

Dennoch sehen die Personalmanagerinnen die Probleme des HRG. Drittmittelforscher oder solche in Langzeitprojekten wie Editionen erhielten nur noch im Ausnahmefall Jobs. Sind die 12 Jahre erst einmal abgelaufen, wird es für diese Spezialisten ganz eng. „Das sind arme Menschen“, sagt Frau Frost, „für die fällt eine ganze Welt weg.“

Ihre Kollegin Frohnhaus denkt bei Problemen an die befristeten Beamtenstellen. Früher dienten diese C-1- und C-2-Positionen als Sprungbretter für Habilitierte. Heute gibt es sie so gut wie nicht mehr, weil sie den Juniorprofessuren geopfert wurden. „Sollen sich Habilitierte aus der Arbeitslosigkeit auf Professuren bewerben?“, stellt auch Bochums Personalchefin die Zukunft der Privatdozenten in Frage.

In diesen Kritikpunkten sind sich betroffene Wissenschaftler und Uni-Verwalter einig. Nur sehen die einen darin Kinderkrankheiten der 12-Jahres-Regel. Die anderen, die Habilitanden, betrachten es als grundsätzlichen Konstruktionsfehler des HRG. Abhelfen kann dem Mangel keine der beiden Seiten.

Auch bei jenen, die Einfluss haben, gehen die Lösungswege für die durch das HRG ausgelöste Krise der Wissenschaft weit auseinander. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) weigert sich, ihr Gesetz nachzubessern. Gerd Köhler, Leiter der Hochschulabteilung GEW-Vorstand, wünscht sich viel mehr unbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten. (Siehe Interview) Hans-Olaf Henkel indes, der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft mit ihren rund 80 Instituten, will die Fristregeln des HRG schlicht streichen. Es müsse Forschern und Arbeitgebern überlassen bleiben, welche Vertragslaufzeiten sie vereinbaren.

„Forscher brauchen keinen staatlichen Vormund, der ihnen vorschreibt, wie lange sie wissenschaftlich arbeiten dürfen“, sagt der Mann, der auch Vizepräsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie ist. An der Befristung lässt er kein gutes Haar. „Man will offenbar, dass Forscher nach zwölf Jahren ihren Job verlieren.“ Die Alternative für die Forscher heiße: Ausland oder Arbeitslosigkeit. Und die Alternative für die Institute sei die Pleite. Denn sie finanzieren sich immer stärker über Projektmittel – und können sich ausschließlich unbefristete Stellen nicht leisten.

Wenn Henkel die Alternativen richtig benennt, wäre es das glatte Gegenteil von dem, was die Bildungsministerin mit dem neuen Rigorosum erreichen wollte: Wissenschaftskarrieren wieder attraktiv zu machen – gerade für Forscher, die ins Ausland abgewandert sind.