Umbruch nach dem Stimmbruch

Die ewigen Seelentröster von der Kelly Family und die ehemals kindlichen Gebrüder „Hanson“ sind erwachsen geworden – und versuchen nun mit ihren neuen Platten, endlich als gereifte Künstler ernst genommen zu werden. Ihre Musik allerdings hat sich nicht wesentlich verändert

VON THOMAS WINKLER

„Es wird“, spricht der ehemalige Kinderstar eine kaum zu verleugnende Tatsache gelassen aus, „es wird nun mal jeder älter.“ Was für jeden anderen ein Allgemeinplatz sein mag, ist für Joey, Jahrgang 1972, ein Satz mit einiger Tragweite. Als seine mittlerweile verstorbenen Eltern Mitte der Siebziger beschlossen, sich mit neun Kindern und Straßenmusik durchzuschlagen, war der Nachwuchs größtenteils noch nicht einmal schulpflichtig. Heute hat das jüngste seiner Geschwister das 22. Lebensjahr erreicht und die Kelly Family ein Problem.

Liebevoll und kreativ

Denn erwachsen wird man vielleicht von ganz allein. Aber wenn sich die Existenz zum Teil auch auf dem Ausstellen der Kindheit gründet, gerät die schnöde biologische Entwicklung zur existenziellen Frage, die mit einem unvermeidlichen Imagewandel beantwortet werden muss. Ein Prozess, der den wenigsten Kinderstars gut bekommen ist. Denn ihre jugendlichen Fans mögen zwar mit Begeisterung die Musik der Kelly Family hören. Sie lieben aber vor allem das Bild von der großen, so chaotischen wie harmonischen, liebevollen und kreativen Großfamilie auf ihrem in Köln im Rhein ankernden Hausboot „Sean O’Kelly“.

Die Kelly Family lebte jahrelang einen öffentlich einsehbaren Enid-Blyton-Roman, und ihre Anhänger versanken dankbar in dieser Ersatzrealität. Nun aber ist das Hausboot verkauft, hat die Hälfte der Kinder selbst schon Kinder, lebt die Familie verstreut zwischen Köln, Irland und Spanien, entscheidet der Familienrat die strategische Entwicklung des mittelständischen Unternehmens, das alle Kellys und zwölf Angestellte ernährt, per Zweidrittelmehrheit – und bemüht sich sichtlich, das öffentlich wahrgenommene Bild zu verändern, ohne die Zielgruppe vor den Kopf zu stoßen.

Die üblichen Liebeslieder

Auf dem unlängst erschienenen Album „Homerun“, das erste nach dem zwei Jahre zurückliegenden Tod von Familienpatriarch Dan, präsentiert sich die Kelly Family komplett in Schwarz gekleidet, als wollte man das altgediente Image von den, wie es Joey nennt, „Hippie-Freaks“ mit aller Macht vergessen machen. Neben den üblichen Liebesliedern und religiösen Stücken werden die Kellys sogar erstmals ansatzweise politisch: „Street Kid“ kümmert sich um obdachlose Kinder, und „Blood“ fühlt sich ein in das Schicksal eines Kindersoldaten. „Man kann uns jetzt erwachsener nennen“, sagt Joey Kelly, „wir nennen es musikalischer.“ Tatsächlich erweitern die Geschwister ihren bisherigen, aus Folk und Spirituals zusammengesetzten Sound vorsichtig um Elemente aus Jazz und Rock. Und haben damit Erfolg: „Homerun“ stieg ein auf Platz neun der deutschen Album-Charts.

Am Imagewandel versuchen sich momentan auch Zach, Taylor und Isaac Hanson. Aus den drei milchgesichtigen Brüdern aus Oklahoma, die 1997 mit dem harmlosen Popsong „MMMBop“ Schülerinnenherzen im Sturm nahmen, sind mittlerweile drei Rockmusiker geworden. Schlagzeuger Zach war süße elf Jahre alt, als man acht Millionen CDs verkaufte und in 27 Ländern Nummer eins war. Nun darf er bald zum ersten Mal seinen Präsidenten wählen. Sieben Jahre nach dem Sommerhit sind Hanson immer noch in einem Alter, in dem man gemeinhin die große Karriere vor sich hat.

Hanson allerdings haben bereits einen kompletten Kreislauf im Musikgeschäft hinter sich: Der Aufstieg von der Indie-Band, die ihr Debütalbum in der elterlichen Garage aufnahm, zur Teenie-Sensation verlief ebenso rasant wie der sich darauf anschließende Abstieg. Entlassen von der Plattenfirma und verlassen von einem Großteil der Fans der ersten Stunde ist man mittlerweile zurückgekehrt zu den Wurzeln und veröffentlicht auf dem eigenen Label. Mit Erfolg: Das neue Album „Underneath“ erklomm aus dem Stand die Spitze der US-amerikanischen Independent-Charts.

Viel mehr ist nicht drin ohne einen international agierenden Unterhaltungskonzern im Rücken. Ob „Underneath“ jemals in Europa veröffentlicht wird, steht in den Sternen. Denn: Popmusik ist ein schnelles Geschäft mit einem langen Gedächtnis. Schauspieler haben es da einfacher: Für jede Shirley Temple, die am frühen Ruhm zerbrach, gibt es eine Jodie Foster, die die Transformation zur Charakterdarstellerin erfolgreich vollziehen konnte. Doch wer im Pop erst einmal vom Erfolg heimgesucht ward, an dem klebt, auch wenn der Ruhm längst wieder vergangen ist, zäh sein Image, ob dieses nun sorgsam konstruiert oder zufällig entstanden war. Wie erbärmlich man in der eigenen medialen Vermarktung verenden kann, führte vor wenigen Monaten zur besten Sendezeit auf Pro7 „Comeback – Die große Chance“ vor, wo sich Coolio oder die Reste von Tic Tac Toe als Karikaturen ihrer selbst der Lächerlichkeit preisgaben.

Solch abschreckende Beispiele vor Augen, nehmen die Bemühungen von ehemals jugendlichen Popstars, endlich als Musiker erst genommen zu werden, bisweilen absurde Züge an. Selten vergessen weder die Kellys noch Hanson, in Interviews darauf hinzuweisen, dass für das jeweilige Album 63 (Kelly Family) bzw. 80 (Hanson) Songs geschrieben wurden. Viel zu viele auf jeden Fall, so der Subtext, weil die Kreativität nicht zu zügeln war. Beide Bands betonen ohne Unterlass die harte Arbeit, die es braucht, an die Spitze zu gelangen, und schimpfen auf die böse Unterhaltungsindustrie. Die Plattenbosse, „das sind doch Leute, die bringen jeden Tag irgendeine Scheiße raus“, klagt Joey, „heute Kelly, morgen Bro’Sis, übermorgen Preluders oder StarSearch. Die bauen Bands gar nicht mehr richtig auf.“

Verkrampft ernsthaft

Weitere Insignien ernsthaften Kunstschaffens sind ein Hidden Track auf „Underneath“ oder dass „Homerun“ als Doppel-CD in den Laden kommt, obwohl die Spielzeit nur knapp über 70 Minuten beträgt und das gesamte Album mithin problemlos auf eine einzige CD gepasst hätte. „Homerun“ wird zum Normalpreis verkauft, aber natürlich signalisiert das Doppelalbum traditionell: Hier hat jemand etwas zu sagen. Fragt sich nur noch: was denn eigentlich? Die Kellys verkaufen sich weiterhin vor allem als Heimstatt für von Einsamkeit und Pubertät geplagte Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Gleich im ersten Song ist die Welt „so kalt wie Eis“, schreit ein Baby, und die Kellys versprechen: „Ich werde da sein für dich, mein Freund“.

So geht es weiter mit guten Ratschlägen („Try not to hurt anybody“), simplen Durchhalteparolen („Don’t be so unhappy/ Your life has just begun“) und Sozialarbeitertrost („Everybody is beautiful“). So viel Lebenshilfe für von den Hormonen heimgesuchte Nichtmehrkinder und Langenochnichterwachsene war selten.

Die besten Jahre

So viel Verantwortung tragen Hanson nicht. Mehr als die patentierten dreistimmigen Harmoniegesänge erwartet niemand von den Brüdern, und die liefern sie auch auf „Underneath“ so souverän, dass die New York Post gar eine „ernst zu nehmende Band“ entdeckt haben wollte, „die ihre besten Jahre und ihre beste Musik noch vor sich hat“.

Tatsächlich aber machen Hanson noch immer fast dieselbe Musik. Der Gitarrenverstärker ist ein wenig weiter aufgedreht, aber von einem Paradigmenwechsel lässt sich kaum sprechen. Die vollkommen veränderte Wahrnehmung zwischen der ersten Inkarnation von Hanson und der aktuellen liegt vornehmlich im Erscheinungsbild begründet: Damals blickte man in die Gesichter von Kindern, heute in die junger Männer, und da der durchschnittliche Konsument im MTV-Zeitalter besser sieht als hört, landeten Hanson I in der Schublade Pop (sprich: unkünstlerisch) und sind Hanson II plötzlich Rock (künstlerisch).

So altbacken diese Zuordnungen sind, so allgemein verbreitet und wirkmächtig sind sie weiterhin. Die poptheoretischen Diskussionen der vergangen Jahrzehnte sind am breiten Publikum wirkungslos vorbeigegangen – und auch an den meisten Musikern: Er hoffe, verkündet der älteste Bruder Isaac, dass man sich in zwanzig Jahren an ihn und seine Brüder erinnern möge als eine Band, die „etwas bedeutet hat“.

Kelly Family 2054

In solchen Zeiträumen denkt auch Joey Kelly: „Richtig ernst und erwachsen werden wir vielleicht in zehn, zwanzig Jahren. Dann haben wir vielleicht wirklich ein Problem.“ Bis dahin will der Geschäftsführer der Kelly Family bewiesen haben, dass das von ihm geleitete Unternehmen entgegen der Tradition die Wandlung vom Kinder- zum Popstar erfolgreich vollzogen hat: „Ich kann mir gut vorstellen, mit 50 Jahren oder noch länger auf der Bühne zu stehen. Ich wünsche mir das.“ Die Kondition und den langen Atem dafür sollte der gestählte Extremsportler besitzen. Nach Marathonläufen, Bergbesteigungen und Triathlons geht er demnächst zum dritten Mal das „Race Across America“ an: mit dem Fahrrad einmal quer über den Kontinent. Simples Erwachsenwerden dürfte da doch vergleichsweise ein Klacks sein.