„Die EU ist schon jetzt zu groß“, sagt Peter Glotz

Die EU bräuchte eine Pause bei der Erweiterung und muss mehr tun, um die neuen Mitglieder zu integrieren

taz: Herr Glotz, in den vergangenen Monaten hat sich die EU erweitert, hat eine Verfassung verabschiedet und ein neues Parlament gewählt. Hat sie sich zu viel vorgenommen?

Peter Glotz: Ja. Es wäre besser gewesen, langsamer vorzugehen. Man hätte nicht zehn Staaten auf einmal aufnehmen müssen. Und wenn man sich schon zu diesem Big Bang entschließt, hätte vorher die Verfassung fertig sein müssen. Besser wäre es gewesen, die Verfassung zu einem Teil des Aquis communitaire zu machen. Wenn ein Land diesen nicht akzeptiert hätte, wäre es eben nicht EU-Mitglied geworden. Jetzt aber ist völlig unklar, ob Tschechen oder Polen die Verfassung ratifizieren. So stürzt die EU in einen Übergangszustand, bei dem weiter der Nizza-Vertrag gilt. Doch dieser macht die Union handlungsunfähig.

Wo wurde der entscheidende Fehler gemacht?

Die EU hätte früher Alternativen zu einer Mitgliedschaft entwickeln müssen. Zum Beispiel die privilegierten Partnerschaft. Diese wäre für einige osteuropäische Staaten aber auch für die Türkei der bessere Weg.

Vielleicht müsste die EU einfach mal eine Verschnaufpause einlegen. Zur Konsolidierung, zum Nachdenken, was nun kommen soll.

Eine Pause wäre sinnvoll. Aber es wird sie nicht geben. Gegenüber Rumänien und Bulgarien gibt es rechtsgültige Zusagen. 2005 beginnen Verhandlungen mit Kroatien. Die EU-Politiker sind auf einem Trip, von dem sie nicht mehr abzubringen sind.

Andererseits stehen wichtige Entscheidungen an, über den Ausbau der gemeinsamen Sicherheitspolitik zum Beispiel.

Es geht darum, wo eine Pause eingelegt wird. Ich bin gegen Pausen bei der weiteren Integration, aber sehr für einen Stopp bei den Erweiterungen. Es gibt so etwas wie Empirial overstretching. Bündnisse dehnen sich so sehr aus, dass sie schließlich zu groß werden. In dieser Situation ist die Europäische Union.

Das heißt kein Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Dezember?

Ja. Wer nicht zugibt, dass die Aufnahme der Türkei die EU grundlegend verändert, lügt sich in die Tasche. Das gesteht sogar Joschka Fischer zu, der allerdings denkt: Wenn man all das gemacht hat, was wir gemacht haben, dann kann man auch noch die Türkei aufnehmen.

Muss jetzt nicht auch in Deutschland endlich eine Debatte über die Zukunft der EU geführt werden?

Diese Diskussion haben wir in Deutschland viele Jahrzehnte geführt und ihr Ergebnis ist eindeutig. Wir wollen einen vertieften Staatenbund, nicht nur einen Binnenmarkt.

Bei den Europawahlen zeigten die Deutschen jedoch nicht viel Begeisterung für diese vertiefte EU. Sie blieben zu Hause.

Bei den Europawahlen ist den Bürgern zu wenig klar, wo die politischen Alternativen liegen. Sie können nicht für oder gegen einen Politiker stimmen wie auf nationaler Ebene. Dies wird sich mit der neuen Verfassung ändern, da dann der Kommissionspräsident gewählt wird. Natürlich ist es schwierig, die Politik der EU zu verstehen. Aber auch der deutsche Föderalismus ist kompliziert.

Es gibt einen Widerspruch: Einerseits bleiben die EU-Bürger bei den den Europawahlen zu Hause, andererseits wollen sie, dass die EU mehr für gemeinsame Verteidigung tut.

Das bestätigt, dass die Leute nicht im Prinzip gegen die EU sind. Allerdings werden sie immer wieder gegen Brüssel aufgestachelt. So zum Beispiel von den deutschen Ministerpräsidenten, die für Entscheidungen, die sie oft selbst getroffen haben, gerne die Brüsseler Bürokraten verantwortlich machen. Manche reden den deutschen Grundkonsens über die EU kaputt.

Gerade deshalb wäre es aber doch sinnvoll, ein Referendum über die Verfassung durchzuführen. Damit jedes Land Farbe bekennt. Wer Nein sagt, muss aus der EU austreten.

Ja, da wäre ich sehr dafür. Aber es wird nicht zustande kommen. In Deutschland nicht, weil dazu eine Verfassungsänderung notwendig ist. In anderen Ländern nicht, weil diese zwar die Verfassung ablehnen, aber doch in der EU bleiben wollen. Der heutige tschechische Staatspräsident Václav Klaus hat mir gegenüber vor vielen Jahren gesagt: „Wir wollen so schnell wie möglich hinein, aber dann wollen wir Thatcher spielen.“ Wir sind verrückt, immer mehr Briten in die EU zu holen. Wir integrieren Staaten, die gar nicht integriert werden wollen. Doch wenn sie nur wirtschaftliche Vorteile wollen, dann sollen sie draußen bleiben.

Das heißt: Als Alternative bleibt nur Kerneuropa?

Wie unklar die Idee von Kerneuropa ist, zeigt schon Joschka Fischer. In seiner brillanten Humboldt-Rede war er dafür, jetzt ist er dagegen. Langfristig ist aber klar, dass Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten in vielen Bereichen eng kooperieren werden. Das ist innerhalb der EU aber schwierig, weil die anderen diese Zusammenarbeit akzeptieren müssen. Daher ist wahrscheinlich, dass sich die Kooperation außerhalb der EU abspielen muss. Das war ja auch beim Irakkrieg so. Was Berlin und Paris gemacht haben, war richtig, hatte aber mit der EU nichts zu tun. Die EU als EU wird so nicht die Wirkung entfalten, die sie mit ihren 455 Millionen Einwohnern haben könnte.

INTERVIEW: SABINE HERRE