Das Verlangen nach Claire

Ein Universum bauen durch nichts als Sprache: Ob sie dazu Einkaufslisten, Filmdialoge oder Plakatüberschriften benutzen, am Ende sprengt Forced Entertainment die Bühne stets in luzide Möglichkeitsräume. Ihren 20. Geburtstag feiert die britische Gruppe mit „Bloody Mess“ in der Volksbühne

VON CHRISTIANE KÜHL

Zum ihrem 20. Geburtstag haben Forced Entertainment der Welt eine Performance geschenkt, die nicht weniger erzählt als: alles. Sie beginnt mit der Entstehung des Universums, endet mit seinem Ende und zeigt in den 120 Minuten dazwischen den ganzen Rest: das verzweifelte humane Aufmerksamkeitsheischen, das hoffnungslose Geliebtwerdenwollen, viel guten Willen, überbordendes Ungenügen, permanente Sabotage und natürlich jede Menge unerträglichen Lärm. Auf den Punkt gebracht heißt das „Bloody Mess“.

Grobes Chaos und seine filigrane Beherrschung gehören von jeher zu den Spezialitäten von Forced Entertainment, die auch zu ihrem Jubiläum wieder in Volksbühne auftreten. Seit sich die Gruppe um Tim Etchells 1984 im nordenglischen Sheffield formiert hat, sucht sie Wege, die moderne Welt durch den Filter des Ichs transparent zu machen. Weil die moderne Welt eine komplexe Angelegenheit ist und der Mensch auch, ist das möglich; weil die Welt groß und der Mensch klein ist, geht das oft in die Hose. Genau dieses Scheitern aber ist es, das Forced Entertainment auf der Bühne perfekt beherrscht. Tragik und Humor, Albernheit und Melancholie leuchten hier zusammen.

„Ich heiße Claire, und Sie werden heute Abend ein überwältigendes Verlangen nach mir entwickeln“, schwört Claire Marshall das „Bloody Mess“-Publikum ein. „Ich will, dass Sie nichts sehnlicher wünschen, als mit mir ins Bett zu gehen.“ Dann verschwindet sie für den Rest des Abends in einem riesigen, zotteligen Gorillakostüm.

„Bloody Mess“ baut auf drei erprobte Forced-Entertainment-Strategien. Da ist zum einem das charakteristische Changieren zwischen dem Darsteller und dem „richtigen Menschen“; alle elf Schauspieler stellen sich in einer großartigen Eröffnungssequenz dem Publikum als die Figur vor, als die sie gesehen werden wollen (und selbstredend nie erscheinen). Dazu kommt die gewachsene Lust der Gruppe, bei aller Dekonstruktion von Theater mit seinen plakativsten Mitteln zu arbeiten: Tierkostüme aus dem Kindertheaterfundus, Langhaarperücken, eine Discolightshow und der exzessive Einsatz der Nebelmaschine führen mühelos zum gewünschten Effekte-Overkill. „Bloody Mess“ beginnt tatsächlich mit einer Clowns-Standardnummer, um danach „Born to be wild“ aus den Boxen dröhnen zu lassen, in voller Länge von Luftgitarren begleitet. Dass die Briten very sophisticated sind, müssen sie nach 20 Jahren niemandem mehr beweisen.

Und tun es natürlich doch. Mit einer weiteren Performance-Strategie, die Forced Entertainment geradezu genialisch beherrscht: dem Universumbauen durch nichts als Sprache. Ob sie dazu Filmdialoge, Einkaufslisten, Chronologien, persönliche Erfahrungen oder Plakatüberschriften nutzen, macht keinen Unterschied – stets sprengen sie die Bühne in luzide Möglichkeitsräume. In „Bloody Mess“, einem lauten Stück über das Verunmöglichen, wo jeder tragische Monolog von Technikern mit einem gut gemeinten, aber wenig hilfreichen Mikrofontest unterbrochen wird und jeder zarte Annäherungsversuch mit der Nebelmaschine abgewehrt wird, gelingt das mit einem Dialog über das Schweigen. Zwei Performer beschließen ein paar Minuten Stille für die Bühne. Nur welche Stille? Die Stille der Natur? Die Stille eines Kindergeburtstags in der Sekunde vor dem Kerzenausblasen? Die Stille nach dem Autounfall? Die Stille, die herrscht, wenn beim Zappen aus Versehen der „Mute“-Knopf gedrückt wird? Für eine kleine Ewigkeit entwerfen sie Szenarien des Schweigens, sodass es in den Köpfen des Publikums bis zum Bersten brummt, wenn die Stille eintritt.

Ganz auf den Text konzentriert ist auch „Dirty Work“ von 1998, das am Freitag im Prater der Volksbühne noch einmal gezeigt wird. Drei Schau- und ein Plattenspieler erzählen in einer einzigartigen Reihung von Daten zwischen Hiroschima und Postboten beißenden Hunden das 20. Jahrhundert in drei Akten. Zeitgleich läuft auf der Hinterbühne „Quizoola!“, entstanden 1996 und eine von den speziellen „durational performances“ von Forced Entertainmaint: Sechs Stunden lang quetschen sich drei Performer Bekenntnisshow-geschult gegenseitig aus. Das Publikum kann kommen und gehen und verfolgen, wie die Erschöpfung das Rollenaufrechterhalten immer schwieriger macht, wie Lüge und Wahrheit, Euphorie und Frust ineinander übergehen.

Wer sich nicht entscheiden kann, welches der Forced-Entertainment-Stücke er an diesem Wochenende anschauen will, geht am besten in alle drei. Wer es überhaupt nicht schafft hinzugehen, dem kann man nur ein dickes und bilderreiches Buch empfehlen: „Not Even a Game Anymore“, das ihre Geschichte und Geschichten versammelt, herausgegeben von Judith Helmer und Florian Malzacher im Alexander Verlag, Berlin.

Freitag, 19 Uhr: „Quizoola!“ und „Video Works“, 20 Uhr: „Dirty Work“, alle im Prater, Kastanienallee 7–9, Prenzlauer Berg; Samstag, 20 Uhr: „Bloody Mess“, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte