Nasser kann man nicht werden

Man muss auch mal über den eigenen Schatten springen und eine Leistung des Feindes anerkennen: Dann kann man sich wohl fühlen, selbst mit eingezogenem Bauch

Cool ist es hier – fast sogar richtig kalt. Aber wenn ich baden gehen will, dann gehe ich baden – was ich mir vorgenommen habe, ziehe ich gnadenlos durch: Skifahren ohne Schnee, Saufen ohne Grund, Badengehen ohne Sonne.

Es ist nicht nur kalt: Kaum sitze ich fröstelnd im Liegestuhl, fallen die ersten Tropfen. Außer mir sind nur wenige Menschen auf dem Steg – entweder verschlurfte Tocotronic-Gestalten oder braun gebrannte Modebärtchen. Einer trinkt Sekt und telefoniert auf Spanisch mit seinem Handy. Cool klingt das, auch wenn er wahrscheinlich bloß mit dem Vermieter über die Ratten in seiner Souterrainwohnung streitet. Dazu schicke Sonnenbrille trotz dunkler Wolken: „Nichts sehen und gesehen werden“ ist bestimmt der Trend der Saison. Wie Sturmsegel flattern die Hängematten im Wind. Einige Leute schwimmen sogar – warum auch nicht, nasser kann man nicht werden, höchstens von innen. Ob ich mir ein Weizenbier hole?

Als der Spanier weg ist, kommt sofort die Sonne raus. Ja! Auf einmal ist alles schön: die Sonne auf dem Pelz, Massive Attack im Ohr, das Spreeufer im Auge und ein Weizen in der Kehle. Bald auch im Kopf. Dann in der Blase. Wo ein Klo ist? „Da, in der Spree“, sagt die lustige Barfrau, aber es gibt dann doch noch ein anderes. Auch hier fehlt übrigens ein Farbstoff im Wasser, der die Hineinpisser entlarvt. Stattdessen stehen Betten herum und laden die vom Bade Ermatteten zum Chillen ein. Leider knutschen auch welche – mit solchen Belästigungen muss man wohl zwangsläufig rechnen, sobald irgendwo mehr als anderthalb Menschen zusammenkommen.

An Toleranz mangelt es allerdings nicht: Niemand sagt: „Hau ab, dicker, alter Mann, und vergiss bloß deine unmodischen Lumpen nicht.“ Nein, das hippe Jungvolk schweigt generös und leidet. Ärgern die sich eigentlich eines Tages über ihre Großbildtattoos? Mein Stilberater hat mal anlässlich eines Roskilde-Aufenthalts eine in etwa 15 Jahren anlaufende Selbstmordwelle gesichtsverstümmelter Vierzigjähriger prognostiziert. Hauptursache: das so genannte EPS, das „Exaggerated Piercing Syndrome“. Mehrere Magersüchtige turnen um ein Muskelmonster herum. Ich habe das blöde Gefühl, dass ich permanent leicht den Bauch einziehe, als würde ich für eine Eisreklame gefilmt, und das noch blödere, dass es nichts hilft. Dabei bin ich nicht mehr der einzige Normalo, inzwischen sind sogar Leute mit Kindern da. Und Handwerker. Weil die Anlage so neu ist, haben die nämlich einiges nachzubessern. Dazu lehnen sie am Geländer, trinken Bier und begutachten die Frauen. Obwohl die gar nicht kaputt sind, zumindest nicht äußerlich.

Eigentlich finde ich ja alles doof, was nach neuer Mitte stinkt, doch andererseits mache ich mir lieber meine Gesinnung zum Sklaven als mich zum Knecht meiner Gesinnung, und hier gefällt’s mir einfach. Man muss auch mal über den eigenen Schatten springen und eine Leistung des Feindes anerkennen. Schließlich handelt es sich nur um einen belanglosen Teilaspekt, ein zufälliges, ungewollt charmantes, Abfallprodukt aus der Giftküche einer selbstverliebten Münchner Event-Mafia. Noch im Urbösesten ist stets zugleich der Keim für etwas anderes, Besseres und Konstruktiveres angelegt. So gab es früher immerhin die Autobahnen. Heute gibt es das Badeschiff vor der Arena. ULI HANNEMANN