Das Paradies

Es misst ziemlich genau siebzig Meter in der Länge und sechzig Meter in der Breite

Die wichtigste Frage der Menschheit dürfte seit gestern beantwortet sein. Wie aus wirklich gut informierten Kreisen verlautet, befindet sich das Paradies zirka sechs Kilometer von hier entfernt, und zwar wenn man nach der zweiten Waldwegkreuzung links abbiegt. Das Paradies misst ziemlich genau siebzig Meter in der Länge und sechzig Meter in der Breite. Tief wird es höchstens drei Meter sein, und seine gefühlte Temperatur amtiert das ganze Sommerhalbjahr über bei freundlichen achtzehn Grad Celsius.

Die Uferkiesel blitzen, die Unterhölzer qualmen als grüne Wolken aus dem Boden. Äste und Blätter der verschiedensten Robinien, Ebereschen und Erlen finden sich in diesem Spiegelbild erst richtig schön und spendieren ein Riesensonderangebot Schatten. Blickt man im richtigen Winkel auf die Paradiesoberfläche, schimmert sie türkis, weil sie stets über ein aktuelles Update des Mischungsverhältnisses von feinstem Blattgrün und luftigstem Himmelsblau verfügt.

Als Spiegel ausgebreitet ruht das Paradies waagerecht auf dem eingedellten Waldboden und hat sich mit allerlei kleinen Attraktionen umkränzelt. Die ortsansässige Kreuzspinne hat ihren Nachkömmlingen zwei ausgediente Netze als Hüpfeburg überlassen. Eine Schule Köcherfliegenlarven erheitert das zahlreich erschienene Insektenpublikum mit artistischem Synchronschwimmen, und der aquare Rasen aus Wasserpest strahlt ein funkelndes Licht ab, für dessen Farbton selbst die neue Rechtschreibung noch keine Begriffe findet. Die Entenmami hat tagein, tagaus dieselben Sorgen, weil eines ihrer drei Küken zu leichten Sinnes geraten ist. Und die scheuen Forellentorpedos haben ihre Kiemen zu roten Warnblinkanlagen gemacht. Ein Libellengeschwader patrouilliert und gibt interessierten Besuchern Geleitschutz. Ihre schicken blauen Uniformen sind peinlich genau abgestimmt auf die honiggelben Blüten der winzigen Sumpfdotterblumen, die hier überall aus dem Quellmoos wuchern, und auf eine Doppelreihe marlbororoter Aronstäbe. Wie zu erfahren ist, sind diese Herrschaften heute für die Bodenbeleuchtung im Halbdunkel zuständig.

Eine knorrige Riesenkiefer hat Einlassdienst und zeichnet für die Sicherheit der Badegäste verantwortlich. Das Paradies kann man leider nicht betreten und auch nicht begehen. Man muss beherzt hineinspringen. Und man kann leicht darin schweben. Eine Schwerelosigkeit umfängt einen, während man Wasserleiche spielt und die Fluten den hitzegeschundenen Körper gesund lecken und sorgsam Grad für Grad auf erträgliche Betriebstemperatur herunterkühlen.

Im Paradies herrscht außerdem Stille. Die dumme Welt ist abgeschaltet. Das einen sonst umgebende Grundgeräusch aus Privatradiogebrumm, Menschengemurmel und Fortbewegungsgeratter fehlt. Ganz. Dafür gibt es ein anderes, eher fühlbares Rauschen, ein Knistern mitunter und ein Plätschern. Sogar der Wind macht Pause über dem Paradies, wirbelt ein paar leise Extraschlenker und bläst einem gratis die betröpfelten Ohren trocken. Als Besucher hält man unaufgefordert die Klappe, rudert mit Arm und Bein seine Runde zu Ende und steuert das Ufer an. Man dankt schön und macht sich lautlos aus dem Staub. MICHAEL RUDOLF