on the rail again
: Auf der Straße nach Afrika

Henning Kober bereist per Interraildie Welt. Heute: Gibraltar und Tanger

GIBRALTAR, Dienstag, 9.45 Uhr. Vor dem Bahnhof Algeciras warten drei britische Ladys, eine Koreanerin und ich auf den Bus nach La Linea. Von dort kann man zu Fuß über die Grenze nach Gibraltar. Ein obdachloser Hund versucht an meinen Schuhen zu schlecken. Nach der wachen Nacht im Liegewagen fühlt sich mein Rücken an wie genagelt.

Dienstag, 10.52 Uhr. Der offene rote Doppeldeckerbus fährt über die Winston-Churchill-Avenue und überquert die Landebahn des Flughafens, deren Horizont im Salznebel verschwindet. Vorne ragt hoch in den Himmel: The Rock. Willkommen in Gibraltar, kurz Gib, genau seit 300 Jahren Land der britischen Krone. Im Reiseführer steht „Jerusalem of Anglophilia“.

Dienstag, 11.20 Uhr. Gibraltar City, Mainstreet, Fußgängerzone, Munchie’s Cafe. Ich kaue an einem appetitlichen Thunfischsandwich, frischen Orangensaft in der Hand. Britisches Produktdesign. Am Nachbartisch teilen sich zwei Damen die Sun und rauchen Silkcut-Zigaretten. Alle haben türkisene Marks-&-Spencer’s-Gibraltar-Tüten in der Hand. Zwei verschleierte Frauen schlendern vorbei, die Dame bemerkt: „It must be so hot“.

Dienstag, 11.38 Uhr. Die Blokes tragen Schuluniformen, dunkelblaue Stoffhosen, weiße Polo-Shirts. Vor dem Covent-Garden-Room reiben zwei Jungen silbern glänzende Kanonen. Ich höre das neue Beasty-Boys-Album.

Dienstag, 12.58 Uhr. Im Restaurant „Top of the Rock“ riecht es nach Fish & Chips. Affen posen geduldig für Fotos. Möwen schreien. In der Bucht kreuzen mittelgroße Tanker. Der Strand der Südseite verschwindet im Nebel. Das Meer nach Marokko ist ein weißes, weites Wolkenbett, in der Ferne Hügelhäuschen. Dort schon Marokko? Ein schönes Ritalin-Mädchen mit kleinen Rastas kaut nervös auf ihren Fingernägeln.

TANGER, Dienstag, 19.20 Uhr. Ich sitze im Bug der Fähre. Zwei britische Senioren betrinken sich mit Whisky. Eine Großfamilie fährt nach Hause. Kind sagt zu Kind: „Du Stinker.“ Vorne wird Tanger größer, gleich ist Afrika. Ich bin unendlich erschöpft.

Dienstag, 20.38 Uhr. Kahlil, mein Guide, hat mich für ein Taschengeld ins Mamora-Hotel in der Altstadt gebracht. Der Page öffnet die 36 und erschrickt, weil auf dem Bett eine junge englische Frau liegt. Ich nehme die 29 und versuche ein Wort zu lernen: „Danke“ auf Arabisch, ausgesprochen wie „Schukran“, so in etwa.

Dienstag, 20.51 Uhr. Zentraler Platz der Medina. Eindruckssturm. Gesichter rasen. Stimmengetümmel. Hautfarben in der Tönung geschlagener Glasscherben. Am Berg ein Fixstern: Das goldene M von McDonald’s. Hallo Tanger, bunter Kreisel. Für dich sprechen deine Fans: McDonald’s und Bianca Jagger, William S. Burroughs, der kam, nachdem er seine Frau erschoss, Paul Bowles, der blieb, bis er erblindete.

Mittwoch, 8.05 Uhr. Ich wache auf, durch das offene Fenster spielt ein Orchester Singvögel. Das Bett ist nass und zerwühlt. Der große Hunger drückt meinen Magen, ein Strahl Sonne zeigt: Die Härchen auf meinem Unterarm sind golden geworden. Das gibt mir so gute Laune, dass ich beschließe, hier zu bleiben, bis ich erblinde.

Mittwoch, 9.18 Uhr. Auf einer Treppe in praller Sonne sitzen Kinder, Klebstofflappen unter ihren Nasen. Die Augen ausgeklinkt verdreht.

Mittwoch, 10.09 Uhr. Ein Café, über dem Eingang steht: „Wir sprechen Deutsch. Hier werden Sie freundlich bedient.“ Im Hintergrund sitzt ein Mann im deutschen Italia-90-EM-Trikot. Auf dem großen Fernseher läuft RTL2, die Big-Brother-Zusammenfassung. An der Wand hängt ein Gemälde des Matterhorns.