Abgesang des Realisten

Nach dem Ausscheiden der harmlosen deutschen Mannschaft in der Vorrunde der Europameisterschaft gibt es für Teamchef Rudi Völler nur eine logische Konsequenz: den Rücktritt

Für Völler gehört der deutsche Fußball jeweils dahin,wo er gerade steht

AUS LISSABON MATTI LIESKE

„Rudi hat die Nase völler“, würden englische Gazetten mit ihrem Hang zur Namensverballhornung wohl den leicht überraschenden Rücktritt des deutschen Teamchefs betiteln, den dieser gestern Morgen erklärte. Am Abend des Abschieds von dieser Europameisterschaft mit dem 1:2 gegen Tschechien in Lissabon hatte Rudi Völler noch signalisiert, dass er gern bis zur WM 2006 weitermachen würde. Doch Völler ist ein Mann des Fußballs. Seit früher Jugend bewegt er sich in dieser seltsamen Welt, und er hat die Mechanismen der Branche komplett verinnerlicht. Zu diesen gehört, dass ein Scheitern in der Vorrunde eines großen Turniers quasi automatisch den Abschied des Verantwortlichen bedeutet. Das war bei Jupp Derwall 1984 so und bei Erich Ribbeck vor vier Jahren. Entsprechend zurückhaltend hatte Völler sein Durchhaltegelübde nach dem Tschechien-Spiel formuliert. „Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass ich Teamchef bleibe“, sagte er da, „aber ich bin auch realistisch.“ Einen Tag später hatte ihn die Realität eingeholt.

Die Unterschiede zu Derwall und Ribbeck sind offensichtlich: Beide hatten es damals nicht geschafft, das vorhandene Potenzial optimal zu nutzen. Rudi Völler aber hatte weder sich selbst noch der Mannschaft etwas vorzuwerfen. „Hervorragend verhalten“ habe sich diese und „alles aus ihren Möglichkeiten herausgeholt“. Sie habe „alles getan, was sie konnte“, aber es gebe „Defizite, die wir nicht beheben konnten“. Da war sie wieder, die bewährte rudistische Dialektik: Kein Tadel, der nicht mit einem Lob verbrämt ist; kein Lob, das nicht auch mit einem Schuss Kritik daherkommt. Völlers Lieblingswort ist „aber“, das Einerseits-Andererseits seine bevorzugte grammatikalische Konstruktion. Diesem Muster folgend, wimmelte auch seine Einschätzung nach dem Match am Mittwoch von Relativierungen – und war doch eine perfekte Beschreibung der Wirklichkeit des deutschen Fußballs.

Rudi Völler ist in der Tat knallharter Realist, Wunschdenken und Visionen sind ihm fremd. Wenn jemand wie Uwe Seeler jetzt sagt, der deutsche Fußball müsse wieder dahin, „wo er hingehört“, legt sich Völlers Stirn in wütende Falten, so wie früher, wenn ein Mitspieler eine Flanke vermurkste. Er lebt im Hier und Jetzt, für ihn gehört der deutsche Fußball jeweils dahin, wo er gerade steht. Und da sieht es so aus, „dass wir gegen die ganz großen Nationen noch Schwierigkeiten haben“. Wobei das „noch“ schon die höchste Konzession darstellt, zu der er fähig ist, und mehr der Hoffnung als dem Glauben verhaftet ist. Das Maß aller Dinge für Rudi Völler ist das Ausschöpfen der Möglichkeiten, unabhängig davon, ob man damit Vizeweltmeister wird oder in der EM-Vorrunde ausscheidet. Ein Grund für seinen Abschied ist auch, dass er sich mit dieser Position nach der Entwicklung der letzten vier Jahre wieder einigermaßen allein fühlt. Die Bescheidenheit, die nach der EM 2000 im deutschen Fußball eingekehrt war, ist längst wieder gewichen, wozu kurioserweise Völler selbst ein gutes Stück beigetragen hat.

„Kein Vergleich“, knurrt es aus Oliver Kahn heraus, dann wandert sein Blick an den Zuhörern vorbei in die Ferne, als sei dort irgendwo am Horizont das Glück zu finden. In den Katakomben des Alvarade-Stadions von Lissabon wird der Horizont jedoch von einer schnöden Betonmauer verstellt, ähnlich jener, gegen welche die deutschen Fußballer bei diesem EM-Turnier gerannt sind. Obwohl das Muster des Ausscheidens in der Vorrunde ähnlich war wie vor vier Jahren in Belgien und Holland, will der deutsche Torhüter und Kapitän von Parallelen nichts hören. „Damals“, so Kahn, „da sind wir doch sang- und klanglos untergegangen.“ Diesmal habe man wacker gekämpft und fast bis zum Schluss die Chance auf den Viertelfinaleinzug gehabt, „nur haben wir das Tor zum 2:1 eben nicht gemacht“. Dafür die Tschechen, „eiskalt“, wie Kahn mit einer Eiseskälte in der Stimme befindet, die verrät, wo der Münchner einen der gravierenden Mängel im deutschen Spiel geortet hatte.

Auch bei der EM 2000 hatten die Deutschen die letzte Partie gegen die Reserve des Gruppensiegers, damals Portugal, verloren. Den Trainer Erich Ribbeck hatte man danach mit Schimpf und Schande davongejagt, nicht viel hatte gefehlt, und DFB-Präsident Mayer-Vorfelder hätte ihn noch in der Nacht eigenhändig vor die Tür des Mannschaftshotels gesetzt. Das Team hatte sich schwer betrunken und lustige Lieder gesungen, ansonsten herrschte allgemeine Depression. Die Diskussionen drehten sich vorzugsweise darum, ob man nicht lieber ganz aufhören sollte mit dem Fußballspielen in Deutschland. Von solcher Grabesstimmung konnte am Mittwoch in Lissabon keine Rede sein. Die Enttäuschung war zwar groß, aber überhaupt in dieser starken Gruppe bis zuletzt am Viertelfinaleinzug geschnuppert zu haben, sahen die meisten Spieler als Erfolg an. Auch wenn sich die Gruppe im Endeffekt als weniger schwer herausgestellt hatte als angenommen, da man die Niederländer an einem schwachen Tag erwischt hatte und die Tschechen bloß die B-Mannschaft hatten auflaufen lassen. Das waren lösbare Aufgaben, selbst für eine Mannschaft, deren Mittel begrenzt sind. Es haperte aber vor allem am Torschuss. „Wenn du nur zwei Tore erzielst, wird es ganz schwer“, brachte es Oliver Kahn auf den Punkt. Nur Ballack bedrohte wirklich das gegnerische Tor, die Stürmer, inklusive des eingewechselten Lukas Podolski, bei weitem kein Wayne Rooney, übten sich in kaninchenhafter Harmlosigkeit.

„Da fehlt die Abgebrühtheit“, sagte Völler besonders in Richtung Kevin Kuranyi, „aber das kann man lernen, das lässt sich trainieren.“ Auch der scheidende Teamchef wollte nichts wissen von Vergleichen mit dem Jahr 2000. „Die Zukunft sieht besser aus als vor vier Jahren“, sagte Völler und verwies darauf, dass am Ende vier U21-Spieler auf dem Platz gestanden hätten und vor allem Philipp Lahm „ein großartiges Turnier“ spielte. In der Gegenwart sah es allerdings so aus, dass die tschechische Reserve spielerisch klar überlegen war. „Gegen defensiv eingestellte Gegner fehlen uns die Mittel, diese zu knacken“, räumt Völler ein, sich selbst hinten reinzustellen, wie es Letten oder Griechen tun, kommt für ihn nicht in Frage. „Das ist nicht unser Anspruch.“ Dem Widerspruch zwischen gefühlter Größe und realer Qualität konnte am Ende auch er nicht entkommen. Man darf gespannt sein, wie ein Ottmar Hitzfeld diesem Dilemma zu Leibe rückt.