FÜR NACHHALTIGKEIT GIBT ES EINE STRATEGIE, ABER KEINE LOBBY
: Rot-Grün geizt mit Zukunft

„Nachhaltiges Denken und Handeln ist noch nicht in der Mitte der Gesellschaft verankert.“ Ach. Das hatte man geahnt, ehe man die aktuelle „Momentaufnahme“ des Nachhaltigkeitsrats auch nur anschaute. Der Rat hat Experten, Unternehmer und Jugendliche befragt, wie weit Deutschland gekommen ist bei der Umsetzung der Prinzipien von Nachhaltigkeit. Und er stellt fest, dass es nicht rosig aussieht: „Keine großen Sprünge“, lautet das Urteil.

An Ideen mangelt es nicht. In den Stapeln von Studien zum Thema „Zukunftsfähiges Deutschland“ kann man detailliert nachlesen, wie anders dieses Land aussähe, würde hier eine Politik gemacht, die Wirtschaft, Soziales und Umwelt als Einheit sieht und danach handelt: Es gäbe keine Debatte darüber, ob wir überhaupt ein Einwanderungsland sind, in den Kindergärten fände wirkliche Bildung statt, es gäbe keine Opposition, die mehr Atomkraftwerke bauen will, es gäbe Bauern, die in der Regel und nicht in der Ausnahme nach Ökostandards arbeiteten, und Verbraucher, die Geiz nicht geil fänden.

Aber so sieht es in Deutschland nicht aus. Warum? Vielleicht, weil Nachhaltigkeit ein furchtbares Wort ist. Das stimmt, reicht aber nicht als Erklärung. Andere Konzepte mit ähnlich furchtbaren Namen („Drittmittelakquise“, „Großvieheinheit“) haben Karriere gemacht. Vielleicht, weil wir in der Rezession andere Sorgen haben? Stimmt auch, aber Nachhaltigkeit sollte ja gerade klar machen, dass von einem Umsteuern alle profitieren.

Vielleicht ist Nachhaltigkeit deshalb nicht in der Mitte der Gesellschaft angelangt, weil sie nicht im Zentrum rot-grüner Regierungspolitik steht. Schließlich sind allein die Entscheidungen der vergangenen Monate zur Verhinderung des Rußfilters, zur Verwässerung des Emissionshandels, zur Verhinderung von Zuwanderung oder zur Unterfinanzierung von Gesundheit und Bildung die schlagenden Beweise: Rot-Grün hat andere Prioritäten als ein zukunftsfähiges Deutschland.

Und die Regierungen von Bund, Ländern und Kommunen richten fast unabhängig von ihrer parteipolitischen Gesinnung ihr Handeln weniger an Kriterien der Nachhaltigkeit aus als an kurzatmigen Finanzzwängen, Lobbyeinflüssen und Wahlterminen. Kann Politik im Rhythmus von Legislaturperioden überhaupt nachhaltige Entscheidungen durchhalten? Jedenfalls finden sich unter den 21 Indikatoren in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zwar Flächenverbrauch, Energieeffizienz, Kriminalität oder Bildung – aber kein Gradmesser dafür, ob politische Grundsatzentscheidungen sinnvoll und vertretbar sind. BERNHARD PÖTTER